Zu viele Eindrücke

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In der kühlen Nachtluft vor dem Haus atme ich durch. Ich widerstehe dem Drang, den Umhang auszuziehen und die Kälte an meinem ganzen Körper zu spüren. Wir setzen uns ins Auto und Ben fährt bis zum Tor. Zwei andere Autos stehen vor uns und wir warten, bis der Herr, der uns vorhin reingelassen hat, zu uns kommt, und uns die Umhänge und die Masken abnimmt. Dann wünscht er uns eine gute Heimfahrt und wir verlassen das Gelände.

Ich hänge meinen Gedanken nach und auch Ben schweigt. So fahren wir durch den Wald bis zur Straße und dann weiter. Ich fühle mich wie nach dem Kino, wenn man das Kino verlässt und sich darüber bewusst war, dass das Gesehene nur ein Film war und das Gehirn langsam von der Film-Wirklichkeit zur echten Welt zurückkehrt. Nur dass es eben kein Film war und das, was heute Abend geschehen ist, Teil der Realität ist.

Als Ben links abbiegt, bin ich verwirrt. Ich war so in Gedanken, dass ich kurz nicht weiß, wo wir sind. Ich sehe keine Häuser und keine Lichter, wir sind noch auf der Landstraße. Die kleine Straße, auf der wir jetzt sind, führt leicht bergauf und als wir um eine Kurve fahren und ich die Lichter der Stadt sehe, weiß ich, wo wir sind. Ein kleiner Aussichtspunkt auf einem Hügel, von dem man einen schönen Blick über die Stadt hat. Ben macht den Motor aus und steigt wortlos aus. Ich folge ihm und fröstele etwas in der kalten Nachtluft. Er nimmt sein Jackett vom Rücksitz, nimmt aus der Tasche eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug und gibt mir, immer noch wortlos, das Jackett. Ich ziehe es dankbar an, während Ben sich eine Zigarette anzündet. Er nimmt einen ersten Zug, schließt kurz die Augen, atmet aus. "Alter!".

Das Wort wirkt so fehl am Platz und macht die Situation so absurd, dass ich anfange zu lachen. Ich kann es nicht kontrollieren aber es wirkt wie pure Erleichterung. Auch Ben fängt an, zu lachen und nimmt mich dann in die Arme. Als wir uns beruhigt haben, fragt er "Bist du okay?"

Ich nicke. "Ja, alles okay, ich bin nur komplett verwirrt."

"Ich denke, nach so einem Abend ist das das Mindeste." Er geht zu einer Holzbank und setzt sich auf die Lehne. Ich setze mich daneben und er hält mir seine Zigarette hin. Ich nehme dankbar einen Zug.

Wir schauen beide auf die Lichter der Stadt und hängen jeweils unseren Gedanken nach bis Ben fragt: "Was hältst du davon?"

Ich zucke mit den Schultern "Keine Ahnung. Es war so absurd, das zu sehen, dass es sich einfach nicht real anfühlt, sondern eher wie ein Film. Der Film hat mir aber gefallen."

"Guter Vergleich. Obwohl ich echt schon viel gesehen habe, das war wirklich krass." So ein Satz von Ben ist wirklich eine Seltenheit.

"Ich kann mir echt nicht vorstellen, was das für Menschen sind, die dort waren. Aber ich glaube, selbst wenn ich auf härteren Sex stehen sollte, das ist mir zu krass und zu absurd."

Ben ergänzt: "Ich war echt überrascht, wie viele Menschen da waren! Ich hätte nicht gedacht, dass so ein 'Geheimbund' für so eine so spezielle Vorliebe so groß sein kann!"

"Du hast Recht. Wer weiß, wie viele der Leute wir gekannt hätten. Ich bin echt froh, dass wir die Masken getragen haben."

"Anonymität kann wirklich von Vorteil sein." Ich höre das Lächeln in seiner Stimme.

Wir schweigen wieder und schauen weiterhin auf die Lichter vor uns. Nach einer Weile bemerke ich, wie unbequem das Sitzen auf der Lehne der Bank ist und stehe auf. Ben steht ebenfalls auf und streckt sich, bevor er einen Blick auf seine Uhr wirft. "Musst du morgen arbeiten?"

"Ja, du?" gebe ich die Frage zurück.

"Homeoffice. Ich dachte mir schon, dass die Nacht sonst ziemlich kurz wird." grinst er.

"Verdammt, soweit habe ich nicht gedacht. Wie spät ist es denn?"

"Es ist halb drei."

"Wir waren da drei Stunden?" frage ich irritiert. Es hat sich für mich höchstens halb so lang angefühlt.

Ben lacht. "Die Zeit vergeht schnell, wenn man Spaß hat. Soll ich dich heimbringen?"

"Ja, bitte."

Wir steigen wieder ins Auto und ich merke, wie kalt mir ist. Ich schalte die Sitzheizung ein und kuschle mich in Bens Jackett und den Sitz.

"Sollen wir uns morgen Abend treffen und den Abend reflektieren?" Ungewöhnlich, dass Ben ohne Anlass länger als drei Stunden im Voraus plant. Der Abend hat ihn wohl wirklich auch geflasht.

"Morgen ist Freitag. Musst du nicht in irgendeinem Club mit einem hübschen Opfer abstürzen? Oder dich mit Claire treffen? Was ist eigentlich aus ihr geworden?"

"Opfer? Ich muss doch bitten. Bei dem, was ich den Damen biete, sind sie ja wohl kaum Opfer! Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, ich komm auch mal einen Freitag ohne Club aus. Außerdem gibt es ja noch den Samstag. Und mit Claire... das ist kompliziert und deshalb auch nichts, was ich an einem Freitagabend brauche. Und - so selten ich das auch sage - ich glaube, auch ich könnte nach so einem Abend Gesprächsbedarf haben."

"Hört, hört. Ich dem Fall kann ich deinen Vorschlag natürlich nicht ablehnen." Ben biegt in meine Straße ein und ich ziehe sein Jackett aus und nehme meinen Schlüssel aus der Handtasche. "Dann bis morgen Abend. Und vielen Dank, dass du den Abend möglich gemacht hast."

"Für meine Mina doch gerne.Bis morgen."

MinaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt