Mina

Weihnachten

Ben, wie üblich in schwarzem Hemd und schwarzer Hose, empfängt mich an der Türe und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich ziehe meine Jacke aus und folge ihm in die Wohnung. Höre ich da Weihnachtsmusik?

Als ich das Wohnzimmer betrete, bin ich versucht, nochmal zur Türe zu gehen, um zu überprüfen, ob ich hier wirklich richtig bin. Das Zimmer quillt vor Weihnachts-Deko und Lichterketten über, von der schlichten Eleganz des Raumes ist nichts mehr zu sehen. Normalerweise biete Bens Wohnung an Weihnachten eine Zuflucht vor übertriebenem Weihnachts-Kitsch oder überhaupt allem, was mit Weihnachten zu tun hat, ausgenommen Glühwein und den Plätzchen, die Lilly und ich mitbringen. Und eigentlich waren zumindest Lilly, Ben und ich uns einig, dass das auch gut so ist.

Ich gehe ein paar Schritte zur Küchentheke und stelle meine mitgebrachten Plätzchen und die Weinflasche ab und schaue mich genauer um. Ein riesiger, leuchtender und glitzernder Weihnachtsbaum steht vor der Fensterfront, mit kleinen Lichtern bestückte Tannengirlanden zieren die Wände, auf dem Klavier stehen kleine, beleuchtete Häuschen auf Kunstschnee und auf dem Sofa sitzt, zwischen Kissen mit Nikolausmützen Lilly, die mit ihrem Haarreif mit Rentiergeweih mit Glöckchen etwas verloren wirkt. Bevor ich die Chance bekomme, zu ihr zu gehen, kommt Claire auf mich zu, umarmt mich und setzt mir dann ungefragt einen Haarreif mit Plüsch-Zuckerstangen auf. Sie trägt eine Woll-Leggings mit Schneeflocken-Muster und einen Wollpullover mit einem Tannenbaum und aufgenähten Bommeln als Kugeln. Ein Haarreif mit glitzerndem Heiligenschein ziert ihre blonden, heute gelockten Haare. Dann gibt sie mir plötzlich einen Kuss, grinst, deutet triumphierend nach oben und ruft "Mistelzweig! Und schön, dass du da bist! Was willst du trinken? Und hast du schon meinen Baum gesehen?"

Sie zieht mich, ohne eine Antwort abzuwarten, zum Baum. Als ich ihn mir genauer anschaue, sehe ich, dass zwischen den Kugeln, den Massen an Lametta und den Lichtern etwas speziellere Dekoration hängt. Zwischen kleinen Schnaps- und Likörfläschchen hängen auch mit Schleifen befestigte Joints, sowie winzige Päckchen mit weißem Pulver oder einzelnen bunten Pillen an den Ästen. So irritiert ich auch darüber bin, so kreativ und gut umgesetzt finde ich die Idee. Der Baum sieht einfach gut aus. Ich frage mich, über welchen Zeitraum die Deko wohl konsumiert werden soll und wie viel der Baum als Ganzes wert ist. "Wow, der Baum ist echt schön!"

Claire grinst stolz: "Ist doch besser, als Geschenke unter dem Baum, oder?"

"Oh ja, auf jeden Fall."

"Aber Bescherung gibt es erst nach dem Essen." sie grinst immer noch und geht in Richtung Küchenzeile.

"Also, was willst du trinken? Glühwein?"

"Gerne." endlich kann ich Lilly begrüßen. Ihr elegantes, schwarzes Cocktail-Kleid wirkt so fehl am Platz wie mein dunkelgrünes, ihr Haarreif mit dem leise klingelnden Geweih passt nicht direkt zum Outfit und ihr Gesichtsausdruck ist irgendwo zwischen Überforderung und Belustigung. Wir umarmen uns und sie flüstert mir zu "Hast du das gewusst?"

Ich schüttle den Kopf. "Sehe ich so aus?"

Wir müssen beide lachen und machen es uns auf dem kleineren von Bens Sofas gemütlich. An Weihnachten ist man wohl gnädiger mit unangenehmen Überraschungen. Und außerdem kann man sich bei Ben sicher sein, dass genug Alkohol im Haus ist, um das zu ertragen.

Dieser kommt gerade vom Rauchen auf dem Balkon zurück und setzt sich auf das große Sofa und schüttelt, nachdem er überprüft hat, dass Claire nicht herschaut, den Kopf mit einer Geste auf die Weihnachtsdeko.

Claire kommt wieder mit der Speisekarte eines Asiaten und meinem Glühwein und setzt sich zu Ben, um sich an ihn zu kuscheln. Wir wählen das Essen aus und Ben gibt die Bestellung auf. Als Ben zur Küche geht, um seine Tasse nachzufüllen und Wasser zu holen, hüpft Claire ihm hinterher, passt ihn unter dem Mistelzweig ab und deutet nach oben, damit er sie küsst. Ben verdreht die Augen, kommt der Tradition aber mit einem innigen Kuss nach.