Der Sonntag ist grau und windig und ich überlege, was ich heute tun soll. Mir ist nach Bewegung, aber das Schwimmbad ist sonntags keine Option. Zu voll und zu laut. Doch ich habe eine andere Idee. Ich schreibe Ben an.
Lust auf Wald?
Ich bin nicht sehr optimistisch, eine Antwort zu bekommen, also schaue ich alternativ nach Busverbindungen, die mich ein Stück aus der Stadt herausbringen.
Während ich noch durch das überschaubare Busangebot scrolle, bekomme ich tatsächlich eine Antwort von Ben:
Super Idee, genau das Richtige heute. Jetzt?
Ich: Ich bin bereit, holst du mich ab?
Ben: Bin in 15' bei dir.
Ich ziehe mich an, krame meine Trekking-Schuhe und ein Weidenkörbchen aus meinem Schrank nehme mein Taschenmesser aus der Kommode. Kurz nachdem ich fertig bin, ist Ben auch schon da.
"Hey, schön, dass das klappt. Ich hätte ja nicht gedacht, dass du schon wach bist." begrüße ich ihn.
"Das ist echt genau das Richtige heute." erklärt er, während er in Richtung Wald losfährt. "Ich war das ganze Wochenende im Club oder mit Claire beschäftigt, Wald, Ruhe und Natur sind jetzt genau das, was ich brauche."
"Schlaf wäre vielleicht auch eine Option gewesen." gebe ich zu bedenken, als ich ihn von der Seite mustere und sehe, wie fertig er aussieht. Er ist wohl nicht schon wach, sondern noch.
"Nein, nicht wirklich. Wenn ich jetzt schlafe, bin ich heute Abend wieder wach und komme morgen für die Arbeit gar nicht aus dem Bett."
"Ich meinte eher, dass Schlaf in zumindest einer der letzten Nächte vielleicht eine Option gewesen wäre."
"Ach so. Ja, vielleicht. Aber irgendwie eben auch nicht. Du weißt ja."
Ja, ich weiß. Claire, die Aufmerksamkeit, Spaß und Ausdauer fordert und dieses unscheinbare, weiße Pulver, das Ben hilft, ihr genau das zu geben, was sie will. Aber ich habe jetzt keine Lust auf Streit und so weh mir das tut, zu sehen, wie Ben sich selbst schadet, weiß ich auch, dass es absolut nichts bringt, das jetzt zu diskutieren.
Ben biegt auf den kleinen Wanderparkplatz ein, auf dem wir schon so oft waren und steigt aus. Er trägt das einzige Paar nicht-schwarze Hosen - blaue Jeans - das ich je bei ihm gesehen habe und die einzige nicht-schwarze Jacke - eine dunkelgraue Ourdoorjacke - die er besitzt.
"Hat dieses Outfit eigentlich schon jemals jemand außer mir gesehen?" will ich wissen.
"Außer meinen Eltern? Natürlich nicht!" erklärt er, halb entrüstet, halb belustigt. "Was sollen die Leute denn sonst von mir denken!" er lacht.
Dann nimmt er sein Körbchen aus dem Kofferraum und wir gehen in den Wald.
Ich muss, wie jedes Mal, an meine Kindheit denken. Pilze-suchen mit meiner Mutter und meiner Tante. Durch den nach Moos und feuchtem Laub duftenden Wald gehen, die Augen immer auf den Boden geheftet, auf der Suche nach versteckten Pilzen.
Genau das mache ich jetzt auch mit Ben. Wir gehen mit einigem Abstand zueinander nebeneinander her, erzählen uns Geschichten und Erlebnisse, unterbrochen von 'Schau mal da!', 'Was ist das für Einer?' und 'Mist, doch nicht.".
Die Fragen nach unbekannten Exemplaren kommen meist von mir, die sofortige Antwort und Erklärung von Ben, der ein aus meiner Sicht unglaublich fundiertes Pilz-Wissen hat. Als ich ihn kennenlernte, hätte ich nie vermutet, dass dieser Typ auch nur freiwillig einen Fuß in den Wald setzt. Mir kommt der Ausspruch 'Man soll ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen. ' in den Sinn.
Offensichtlich hat das Wetter in den letzten Tagen perfekte Konditionen für die Pilze geliefert und so füllen sich unsere Körbchen nach und nach mit Maronen, Rotfußröhrlingen und sogar einigen Steinpilzen, obwohl wir uns dekadenter weise auf die schönsten Exemplare beschränken, die wir finden.
Im Laufe der nächsten Stunde im Wald wird Ben zunehmend schweigsamer und ich versichere mich, ob wir nicht doch zum Auto zurückkehren sollen.
"Nein, wir machen unsere Runde schon zu Ende. So schlecht geht's mir auch nicht." Ich nehme das so hin, auch wenn ich weiß, dass es nicht stimmt. Selbst schuld, vielleicht lernt er ja etwas daraus. Wobei es immer noch Ben ist. Also wahrscheinlich nicht.
Als wir am Auto sind und die gut gefüllten Körbchen ins Auto stellen, frage ich Ben: "Soll ich uns aus den Pilzen was Leckeres zu Essen zaubern?"
"Grundsätzlich natürlich wahnsinnig gerne, aber ich habe gerade nicht den richtigen Appetit, um die Pilze zu würdigen, sorry. Du kannst die Pilze für dich haben. Und nächstes Mal, wenn wir in den Wald gehen, bin ich besser drauf, versprochen."
Er wirkt bedrückt und ich frage mich, ob das nur der Kater nach dem Speed ist, oder ob es ihm tatsächlich leidtut, in so einer Verfassung zu sein.
Als ich daheim bin, putze ich die Pilze. Guter Deal, alle Pilze für mich alleine zu haben. Doch um sie alleine zu essen, sind es zu viele, also friere ich einen Teil ein. Den kann ich immer noch ein anderes Mal mit Ben teilen.
Die Pilze, die ich nicht einfriere, brate ich in einer Pfanne mit Butter und ein wenig Sahne und mache Bandnudeln dazu. Es geht doch nichts über frische Waldpilze.
Am Montagmittag erreicht mich eine Nachricht von Ben:
Hey Mina, kannst du nach der Arbeit vorbeikommen?
Ich: Klar, kein Problem. Alles in Ordnung?
Ben: Nicht so richtig, ich brauche jemanden zum Reden. Wenn ich nicht öffne, lass dich selbst rein.
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Mina
General Fiction[E] markiert Kapitel mit sexuellem Inhalt. Was macht man eigentlich, wenn man Anfang Dreißig ist, keinen Partner, keine Kinder, keinen Hund und keinen Garten hat, aber auch keinerlei Bedürfnis, das zu ändern? Was tut man, wenn Gleichaltrige von Fami...