50. Schöne Ängste

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Dieses „Anella", aus seinem Mund, hallt gravierend in meinem Inneren nach, sodass ich wie erstarrt in der Bewegung innehalte.

Was? Das war das erste Mal, dass er meinen richtigen Namen ausgesprochen hat. Erschrocken sehe ich zu ihm hoch und merke wie seine Arme leicht zittern, da er sich noch weiter nach vorne gelehnt hat, sodass er sich mit einer Hand an der Eisenstange festhalten kann.

Er sieht aus wie ein Lappen, welcher sich versucht, mit seiner Restfeuchte an eine Wand zu kleben, ohne abzufallen und dabei gleichzeitig zu bebendem Stein erstarrt ist.

Dann kennt er meinen Namen inzwischen also doch. Ich beiße mir auf die Lippe. Nur, weil er mich jetzt beim Namen anspricht, gebe ich noch lange nicht nach. Mir fällt auf, dass mir meine Schuhe ziemlich auf die Nerven gehen.

Die Sohle ist viel zu glatt für dieses Metall. Ich sollte sie ausziehen. Kurzentschlossen hebe ich mein eines Bein, sodass ich nur noch mit meinen einen Zehenspitzen auf der Leiter stehe und öffne mit einer Hand den Verschluss.

„Anella verdammt, was machst du da?"

Als ich den ersten Schuh gelöst habe, beginne ich dieselbe Prozedur mit meinem anderen Fuß, doch halte dann mitten in der Bewegung inne, als ich plötzlich eine leichte Vibration auf dem Metall wahrnehme und ein lautes Keuchen erklingt.

Kuno hat sich noch weiter vorgelehnt und umklammert nun mit beiden Händen das Metall, während er sich verkrampft über das Fenster hängt.

„Wenn du nicht sofort zurückkommst, dann werde ich dir eben folgen und eigenhändig wieder hier hoch bewegen!" Droht er, doch seine Stimme klingt alles andere als fest.

Eher wie atemlos zitterndes Espenlaub, doch gleichzeitig auch entschlossen. Ich verdrehe die Augen. „Mach das lieber nicht und falls doch, dann ziehe dir vorher deine Schuhe aus, die Sprossen sind ziemlich rutschig!"

Ich höre wie Kuno scharf die Luft einzieht, als ich das sage und im selben Moment meinen anderen Schuh löse. Dann lasse ich sie mit einem Lächeln hinab auf die Erde fallen, wo sie verteilt auf der Wiese landen.

Wie schön das aussah. Wie zwei Vögel im Wind. Zumindest, solange sie geflogen sind. „Du bist verrückt! Du bist so..." Kuno scheinen die Worte zu fehlen.

Ich lächele in mich hinein und gehe noch einen Schritt nach unten. Ich beeile mich nicht, da das Gefühl von hier oben viel zu schön ist.

„Verdammt Anella!" Das war jetzt schon das dritte Mal, dass er meinen Namen ausgesprochen hat. Ich lache in mich hinein. Die Weite verursacht in mir irgendwie das Gefühl von Leichtigkeit und Euphorie.

Ich liebe Höhen. Plötzlich vibriert das Metall unter meinen Handflächen und Fußsohlen wieder ganz leicht, sodass ich nach oben sehe, wo sich Kuno halb im Fenster und halb auf der Leiter befindet und sich weder vor noch zurückzubewegen scheint.

So wie er da drinnen hängt, sieht es durchaus gefährlich aus. Ich bezweifle auch, dass Kuno so geübt im Klettern ist wie ich. Vor allem da er die Kletterstunden bei Sport laut Simo immer geschwänzt hatte.

Ich sehe, wie er zittert und sein Fuß dadurch gefährlich immer ein Stück weiter von der Sprosse zu rutschen scheint.

„Kuno, was machst du da?" Er antwortet nicht. Stattdessen höre ich wieder ein Keuchen und merke, wie er unnatürlich schwankt.

Plötzlich habe ich Angst, dass ihm so schwindelig wird, dass er das Gleichgewicht verliert. Er hängt immer noch in einer gefährlichen Position am Fenster.

„Kuno warte, bewege dich nicht!" Ich klettere so schnell ich kann wieder nach oben, sodass ich direkt unter ihm stehe.

„Du musst deinen anderen Fuß auch hier auf die Sprosse stellen!", weise ich ihn an, doch es scheint, als sei Kuno zu einer Statue erstarrt. „Kuno!" 

Tanz der Dämmerung - Zwischen den Welten ~Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt