1. Im Klang der Winde

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Ist es normal, dass ein Traum sich in die Realitätswahrnehmung schleicht und damit vermischt? Falls nein, dann hätten wir hier schon das erste Indiz, dass ich verrückt bin. 

Zu real. All meine Fantasien sind das. Doch zugleich auch zu schön, um sich dagegen zu sträuben. Ich fühle die Erinnerung unsichtbarer Hände auf meiner sehnenden Haut. Ein leises Wispern eines Atems in meinen Ohren, wie das besinnliche Rascheln von Blättern, wenn der Wind genüsslich hindurch streift. 

Eine ergreifende Melodie erzeugend. Leise küsst sie meine Sinne und durchdringt die Schichten der Ebenen, ohne dem Strom der Zeit wirklich anzugehören. 

Frequenzen, die sich in ihren unterschiedlichsten Formen zeigen. Sei es auch ein noch so kleiner Gedanke. Es ist wichtig, auf diese aufzupassen und behutsam mit ihnen umzugehen, denn sie bestimmen unser Leben mit. Mehr als wir vermutlich denken.

Alles ist und zugleich auch nicht. Zu komplex, um es allein mit dem Verstand zu begreifen. Umso mehr empfinde ich es teilweise jedoch durch den Körper. Besonders in letzter Zeit scheint er verstärkt im Fokus für diese Wahrnehmungen zu sein. 

Ich weiß allerdings weder woher sie kommen, noch wo sie mich hinführen. Sie rufen mich. Vielleicht sollte ich Angst haben. Was bedeuten diese Tänze, die mich jede Dämmerung aufs Neue hinaus in die Natur locken, mich vereinnahmen und sich wie ein leckendes, unaufhaltsames Feuer durch meine Adern winden? 

Ich habe gar keine andere Wahl, als mich ihnen hinzugeben. Sie erscheinen mir als eine der himmlischsten Empfindungen, die ich je erfahren durfte, doch zugleich können sie sich auch in die höllischsten wandeln, sobald ich versuche, mich ihnen zu widersetzen. 

Sie sind eines der wenigen Dinge, vor denen es mir nicht möglich ist wegzulaufen, genauso wenig vor dem, wie ich bin, auch wenn ich gestehen muss, dass ich es immer wieder versuche. 

Innere Flammen lecken an meinem Verstand und drohen ihn mit jeder Nacht zunehmend auszubrennen. Gänzlich. Sodass nichts mehr zurückbleibt als dieses überwältigende, unberechenbare Sehnen. 

Gestern Abend war es besonders stark. Intensiver als die Nächte zuvor. Da war Musik in meinen Lungen, ein eigenständiger Rhythmus in meinen Adern, ein Klang der Welten, der mich mit der umliegenden Natur verschmolz, sodass ich mich nicht mehr von ihr trennen ließ. Magie, die mich erfüllte und umgab. 

Das Beängstigende daran ist jedoch, dass nicht nur ich es bin, die es will. Nein, es will mich.

„Erde an Anella?" Eine Hand fuchtelt vor meinem Gesicht hin und her, sodass ich erschrocken zu blinzeln beginne und irritiert in das fast schon besorgt dreinblickende Gesicht meiner besten Freundin spähe. 

„Alles in Ordnung?" 

„Äh..." Ich betrachte das einstige Stück Papier zwischen meinen Fingern, das ich wohl schon eine Weile verstümmelt und zu kleinen Murmeln geformt habe. Oh nein, nicht schon wieder.

„Ja, ich hatte nur einen Traum", versichere ich ihr, was zur Folge hat, dass ihre Augen noch größer werden. „Wie ... jetzt?" 

Oh... Dieser Blick. Heißt das... Augenblicklich fokussiere ich mich wieder annähernd wach auf meine Umgebung. Ach du Schreck. Tafel... Lehrer... Matheformeln... Wohl nicht gerade der geeignetste Ort für ein Nickerchen. Zumindest in den Augen der meisten. Für mich dann oftmals schon. 

„Das heißt, du kannst mir das dann wohl auch nicht erklären." Sie tippt auf ihren Zettel und ich verziehe entschuldigend das Gesicht. Zum einen wegen der Tatsache, dass ich wieder einmal den halben Unterricht verschlafen habe und zum anderen, weil diese verbrauchte Luft mir hier langsam aber sicher die letzten Lebensgeisterchen aus den Zellen saugt. 

Tanz der Dämmerung - Zwischen den Welten ~Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt