39. Flackerndes Blut

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Ich ertappe meine Gedanken immer wieder dabei, wie sie in andere Ebenen dringen, wo sich auch Tyrian befindet. Wie es ihm jetzt gerade wohl geht? Ich stelle mir immer wieder vor, wie es wäre, wenn er jetzt hier wäre.

Allein diese Vorstellung ist so berauschend, dass ich beklommen aus dem Fenster starre, als mir bewusst wird, dass das wohl niemals der Fall sein wird.

Tyrian kann nicht hier herkommen, sonst dürfte er nicht mehr zurück in seine Welt. So ungefähr hatte er es mir mal gesagt. Und ich kann andersrum auch nicht zu ihm.

Er meinte, keinem Mensch wäre es möglich, die andere Ebene zu betreten und ich bin immerhin zu einem gewissen Teil menschlich.

Und selbst wenn es klappen würde und ich die Ebenen durchdringe, meinte er, dass auch die anderen nicht wissen dürfen, wer ich bin.

Es bleibt uns also keine andere Möglichkeit als uns ausschließlich in unseren Träumen und auf der Lichtung zu treffen.

Ich frage mich, was er wohl in diesem Augenblick gerade macht und was für eine Versammlung er meinte, zu der er gehen musste? Mir fällt auf, dass ich fast gar nichts über sein Leben weiß.

Der Geruch von abgestandener Luft, Schweiß und alter Wandfarbe hängt im Klassenraum und drückt sich bleischwer auf meine Sinne. 

Er ist so penetrant, dass ich gleichzeitig mit dem Gong, welcher den Schulschluss einläutet, nach Draußen flüchte und meine Nase in den duftend summenden Strauch Rosen vorm Eingang stecke.

Ich fühle ein Ziehen in meinem Bauch, obwohl wir es erst kurz nach drei Uhr nachmittags haben. Das kann doch gar nicht sein! Es geht von Abend zu Abend früher los und scheint damit auch noch nicht enden zu wollen.

Ich atme tief und etwas panisch durch, während ich dabei die erregend trockene Luft in meiner Lunge schmecke.

Schnell schüttele ich diesen Gedanken wieder ab und sehe stattdessen zurück zu dem Schulgebäude. Da muss ich jetzt gleich wieder rein. Nachsitzen...

Wieso kommen Menschen nur auf diesen absurden Gedanken, sie könnten entscheiden, wann ein anderes Lebewesen wo zu sein hat. Im Grunde geht niemanden etwas an, wo ich bin! 

Sie dürften sich gar nicht das Recht herausnehmen, mir vorzuschreiben, dass ich mich in irgendeinen Raum setzen soll, nur um es später auf irgend so ein Blatt Papier zu bringen. Das ist doch bekloppt. 

Ich stöhne und grabe meine Zehen in die Kieselsteine unter mir. Dann renne ich kurz in den Wald. Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich etwas später zum Nachsitzen komme. Immerhin ist ja der Lehrer auch nicht da. 

Als ich mit meinen Fingerspitzen über die Rinde der Bäume streife, fühle ich mich schlagartig besser. Mein Schwindel verflüchtigt sich mit dem Wind und ich schmecke die süßen Klänge des Waldes. 

Wie gerne würde ich jetzt singen, doch damit werde ich mich noch bis nachher gedulden müssen! Zum Glück war ich heute erfolgreicher damit, Nilo aus dem Weg zu gehen. 

Nur in den Pausen, wenn ich mit meinen Freunden auf der Wiese saß, hat er sich wieder neben mich gesetzt und versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Zum Glück hat er vor ihnen nicht versucht, mit mir über die Sache auf dem Konzert zu sprechen, oder gar mich zu küssen.

Das ist auch der einzige Grund, warum ich mich da habe blicken lassen. Allerdings war es sehr schwer, seine ständig auf mich gerichteten Blicke zu ignorieren. 

Ich bin jedenfalls erleichtert, als alle Schüler den Schulhof verlassen haben und ich somit ungesehen zurück zu dem Klassenraum laufen kann. 

Ich habe Nilo natürlich nicht gesagt, dass ich nachsitze. Nicht dass er noch auf falsche Ideen kommt und auf mich warten will oder so! Verdammt, ich muss das echt klären! Wieso versteht er es einfach nicht?

Tanz der Dämmerung - Zwischen den Welten ~Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt