Kapitel 22

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Ehrlichkeit, die [Substantiv] - sittliche Eigenschaft des Ehrlichseins

Ich liege auf meinem ehemaligen Bett in Elias Wohnheimzimmer und starre die Decke an. Elias neue Mitbewohnerin hatte ihr Studium in der Mitte des Semesters schon wieder abgebrochen.

Ich weine nicht, aber ich zerbreche mir den Kopf. Ich verstehe einfach nicht, warum Sam mich verlassen hat. Klar, ich war die letzten Wochen keine gute Freundin, aber wir haben gerade unser Baby verloren - da ist das doch verständlich, oder?

"Ich kann nicht zurück in die Wohnung", seufze ich. "Zumindest erst mal nicht."

"Ich weiß", meint Elia, während sie ihren Laptop aufklappt, welcher auf ihren Oberschenkeln steht. "Ich hab diese Woche vorlesungsfrei und Logan hat sich Urlaub genommen. Meine Eltern wollen ihn kennenlernen. Und du kommst mit nach LA, Sophia."

Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich hatte seit meinem Auszug keinen wirklichen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Sie haben an meinen Geburtstagen angerufen, aber das war es dann auch.

"Lia, ich will nicht."

"Ich weiß. Aber ich akzeptiere keine Gegenreden. Du kommst mit, ich buche dir ein Ticket. Du solltest deinen Eltern endlich erzählen, dass du schwanger warst."

Na, das kann ja heiter werden.

~

Während ich mich im Wohnheimzimmer aussschlief, war Elia in Sams und meiner Wohnung und hatte mir alle wichtigen Sachen für LA zusammengepackt. Ich war ihr sehr dankbar, dass ich also erst mal nicht mehr in diese Wohnung musste - die Wohnung, in der WIR mit unserer Tochter leben wollten.

Nach über 6 Stunden Flug mit schrecklichen Turbulenzen waren Logan, Elia und ich in Los Angeles angekommen und fuhren mit dem Bus weiter in den kleinen Vorort, in dem meine beste Freundin und ich aufgewachsen waren und in dem unsere Eltern noch immer wohnten.

Da es schon spät war, kam ich mit zu Elias Eltern und schlief dort im Gästezimmer. Den Besuch und das Gespräch mit meinen Eltern würde ich erst morgen in aller Ruhe und ausgeschlafen in Angriff nehmen.

~

Nun stand ich also da und nahm all meinen Mut zusammen. Ich klingelte und erschrak, als ich ziemlich direkt Schritte hörte. Sofort wusste ich, dass es sich um die Schritte meiner Mutter handelte. Im nächsten Moment wurde die Haustür geöffnet und meine Mutter sah mich verwirrt an.

"Sophia, Schatz! Was machst du denn hier? Warum hast du nicht Bescheid gegeben, dass du kommst?"

Ich schlucke. "Kann ich vielleicht erst einmal reinkommen?"

"Natürlich!" Meine Mutter nickt, während sie wegtritt und mich mit einer Handgeste hinein bittet.

Ich folge ihr ins Wohnzimmer, wo mein Vater auf der Couch sitzt und überrascht aufspringt, um mich in den Arm zu nehmen, als er mich sieht.

"Sophia, was für eine Überraschung!"

Ich fühle mich unwohl hier. Es war eine blöde Idee von Elia, nach LA zu kommen. Ich hätte einfach in New York bleiben und sie alleine mit Logan hierhin reisen lassen sollen.

Ich setze mich zusammen mit meinen Eltern auf die Couch und knete nervös meine Hände. Ich hatte Elia versprochen, dass ich meinen Eltern sagen werde, dass ich schwanger gewesen bin und ich hatte mir dieses Gespräch schon etliche Male im Gedächtnis zurechtgelegt, aber jetzt war mein Kopf wie leergefegt.

Meine Mutter sieht mich angespannt an. Na klar, seit ich ausgezogen war, war ich nicht einmal wieder hier. "Ist etwas passiert?"

Ich nicke lediglich.

"Willst du uns auch erzählen, was passiert ist?"

Da ich nicht weiß, wie ich diese Information schöner verpacken kann, falle ich sofort mit der Tür ins Haus: "Mama, Papa, ich war schwanger."

"Wie? Wieso warst du schwanger? Wo ist das Kind, du hast es nicht etwa weggegeben?"

Erschöpft seufze ich auf. Mir war klar, dass meine Eltern so reagieren würden und dass ihnen als erstes der Gedanke kommt, ich hätte das Kind abgetrieben oder weggegeben und nicht der Gedanke, dass das Kind vielleicht nicht überlebt hat. So waren meine Eltern nun mal schon immer.

"Nein, ich habe das Kind nicht weggegeben. Mama, was denkst du denn von mir?"

"Und wo ist das Kind dann und wer ist überhaupt der Vater? Hast du einen Freund?"

Da ich diese ganze Fragerei nicht aushalte, erzähle ich meinen Eltern nun in einem Satz die ganze Wahrheit. "Mein Freund ist abgehauen, nachdem unser Kind bei der Geburt gestorben ist und ich mich wochenlang im Kinderzimmer eingeschlossen habe."

"Euer Kind ist gestorben? Das ist ja schrecklich! Komm her, mein Schatz!" Meine Mutter springt auf und nimmt mich in die Arme, sie streicht mir über den Rücken, so, wie sie es früher immer getan hat.

So, wie sie es früher immer getan hat, wenn es mir schlecht ging - dabei ging es mir gerade ausnahmsweise mal nicht mehr schlecht. Denn irgendwie war es befreiend für mich, meinen Eltern die Geschichte zu erzählen. Es fühlte sich an, als würde ich Mengen an Ballast verlieren und hinter mir lassen können.

Mein Vater steht ebenfalls von der Couch auf, kommt zu uns und schließt uns beide in seine Arme. "Das tut mir so leid für dich, meine kleine Prinzessin."

Ich wusste dass diese Frage von meinen Eltern nun kommt, schließlich habe ich 18 Jahre lang mit ihm zusammen gewohnt, doch trotzdem habe ich keine richtige Antwort auf diese Frage. "Was willst du denn jetzt machen, was ist denn mit deinem Studium?"

"Ich habe mein Studium nach dem zweiten Semester eingefroren, als ich schwanger geworden war. Und ich habe einen Job im Verlag, den konnte ich auch zu Hause weitermachen."

"Das ist doch toll, mein Schatz. Hast du vor, das Studium wieder aufzunehmen?"

Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch nicht nachgedacht gehabt, aber nach dieser Befreiung, dass ich meinen Eltern von meiner Schwangerschaft erzählt habe, fühle ich mich irgendwie bereit, wieder zu studieren und in mein altes Leben vor Sam zurückzukehren - vor Sam und Minou.

Verschütteter Kaffee macht schwanger!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt