Theon
Die Sonne senkte sich langsam an Bardos Horizont hinab, tauchte das Königreich in eine Finsternis, die Theon schon lange nicht mehr fremd war. Einst war auch dieser Teil des Landes von der Sonne geküsst und vom Sommer geliebt worden. Es schien als hätte sich selbst die Natur an den Gemütszustand der Adelsfamilie angepasst. Als würden die Sonne, das Meer und die Wälder ebenfalls trauern.
Der junge Prinz hielt die Luft an, als die Schneiderin sein Hemd absteckte, um die Stellen zu markieren, an denen noch etwas geändert werden musste. Der heutige Abend würde bedeutend werden. Das hatte seine Mutter ihm eingebläut.
Schon seit ein paar Jahren war er volljährig, weshalb die Vermutung nahe lag, dass seine Eltern darauf erpicht waren, auf dem nahenden Ball eine passende Gemahlin für ihn zu finden. Eine junge Dame, die einen Stand und Ruf besaß, die ihm gerecht wurden.
Er war bereit dafür. Sein Leben lang war er auf diese Situation vorbereitet worden. Seine Eltern hatten ihm stets vorgebet, wie wichtig es für einen König war, eine passende Frau zu finden, um mit dieser die Blutlinie zu sichern. Männliche Erben waren, neben dem Wissen um Politik und Kriegsführung, einer der wichtigsten Aspekte.
Die Schneiderin klopfte ihm auf seinen Bauch, zeigte ihm damit, dass er wieder atmen sollte. Zischend ließ er die Luft entweichen, streifte sich dann den Anzug vom Körper und drückte ihn ihr in die mit Hornhaut überzogenen Finger.
„Ich werde ihn perfektionieren. Seid in einer Stunde wieder hier, Sir, dann mache ich Euch für den Ball zurecht", forderte ihn die junge Frau auf, woraufhin er nickte und ihr Arbeitszimmer verließ. Nicht aber ohne ihr einen langen, bedeutungsschwangeren Blick zuzuwerfen. Schüchtern senkte sie erwidernd den ihren, biss sich kaum merklich auf die Unterlippe.
Er streifte durch die Gänge, beschloss sich für die restliche Stunde, die ihm vor dem Trubel noch blieb, in die Bibliothek zurückzuziehen und dort die Ruhe zu genießen. Auf seinem Weg ins Reich der Bücher begegneten ihm viele Bedienstete, die alle Hände voll damit zu tun hatten, alles für die Festivität herzurichten, sodass es seinen Eltern am Ende auch wunschlos glücklich mit dem waren, was sie auf die Beine stellen lassen hatten.
Seine Mutter, Königin Mary-Anne, war schon immer eine Person gewesen, die zum äußersten Perfektionismus neigte. Aufgrund dieser Charaktereigenschaft war sie nur schwer zufriedenzustellen. Schon oft hatte Theon miterlebt, wie sie von Wutausbrüchen heimgesucht worden war, wenn ihr etwas nicht gepasst hatte. Die ärmsten Zofen waren nach diesen immer völlig verängstigt, wenngleich seine Mutter auch nie handgreiflich wurde. Manchmal genügten bloße Worte und Drohungen, um jemanden erschaudern zu lassen.
Er erreichte die hölzerne Tür, in welche filigrane Schnitzereien eingearbeitet worden waren, die den imposanten Corpus eines Steinadlers und ein hohes Gebirge darstellten. Ein Bild, das ihn selbst nach Jahren des Betrachtens noch zum Träumen anregte.
Doch was dahinter verborgen lag, verzauberte einen begeisterten Leser nur noch mehr. Eine unendlich groß wirkende Halle, Regale die bis zur Decke reichten und prall gefüllt mit Büchern waren. Ein ansehnlicher Kronleuchter mit kristallenen Elementen, der den Raum erhellte, dunkel vertäfelte Wände, Gemälde von längst verstorbenen Familienangehörigen, Leseecken und ein ausladendes Fenster, auf dessen Sims weiche Kissen aus Schafsfell platziert waren.
Schon immer hatte sich Theon gerne an diesen Ort zurückgezogen, denn außer ihm besuchte ihn nahezu niemand. Die einzigen die sich hier hin und wieder herumtrieben, waren die Putzdamen und einer der Minister seines Vaters, der ebenso belesen war wie der junge Prinz selbst.
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Veilchenblau
Historical Fiction„Ist es wirklich wahrhaftige Liebe, die wir füreinander empfinden, oder ist es nur die Verpflichtung, die uns miteinander verbindet?" Über den Zeitraum von vier Jahrzehnten herrschten Uneinigkeit und Unruhe zwischen den beiden mächtigsten Königreic...