Theon
Jäh zuckte er zusammen und riss die Augen auf, als die Tür zur Kammer geöffnet wurde. Er blinzelte gegen das Licht an, das nun in den stickigen Raum fiel, hörte Schritte die sich näherten und erkannte zuerst nur schemenhaft, dass sich jemand auf ihn zu bewegte.
Erst als er sich an den Helligkeitsunterschied gewöhnt hatte, begriff er, dass es Elody war.Sie ging vor ihm in die Hocke, musterte ihn durch ihre eisblauen Iriden, die ihm wie damals schon tief in seine Seele zu blicken schienen.
Ihre Narbe stach ihm ins Auge und brachte ihn dazu zu schlucken. Was war bloß mit ihr geschehen? Was hatte man ihr angetan?Noch wagte nicht, etwas zu sagen. Die Art, wie sie ihn betrachtete, so als wäre er das Reh und sie die Jägerin, ließ kein Wort aus seinem Mund hervordringen.
Auch Hunter, der unweit von ihm auf dem Boden gekauert war um zu schlafen, blieb still, setzte sich aber auf und schenkte der jungen Frau seine Aufmerksamkeit.
Theon hatte sie nicht mehr gesehen, seit er sie davon überzeugt hatte, eine öffentliche Hinrichtung seines Halbbruders, gepaart mit seiner eigenen, wäre geschmackvoller und würde mehr Eindruck schinden, als ihn ungesehen von ihren Anhängern, auf einer Wiese voller Mohnblumen niederzustrecken.
Ehrlich gesagt hatte er nicht erwartet, dass sie darauf eingehen würde. Es war nur ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, Hunter mehr Zeit zu schenken.
Als sie zugestimmt hatte, hatte ihm das die Hoffnung geschenkt, noch immer einen gewissen Einfluss auf sie zu haben. Und Hoffnung darauf, ein vernünftiges Gespräch mit ihr führen zu können, zu erfahren, was in den vergangenen Jahren alles geschehen war und sie am Ende doch noch dazu zu bringen, von ihrem wahnsinnigen Vorhaben abzulassen.„Elody ...", hauchte er schließlich ihren Namen, nachdem sie auch nach einer weiteren verstrichenen Minute nichts gesagt hatte.
Sofort verfinsterte sich ihr Blick und sie stellte sich wieder aufrecht hin. „So heiße ich nicht mehr", murrte sie.Er wollte ihr sagen, dass sie für immer seine kleine Schwester bleiben würde, ganz gleich welchen Titel ihr die Rebellen gaben, doch ehe diese Worte seine Lippen verlassen konnten, warf sie ihm ein Stück Papier entgegen, das sich bei näherem Betrachten als Brief entpuppte. „Was ist das?", fragte er, griff im nächsten Moment aber bereits danach, um zu lesen.
Ihre Augen ruhten dabei auf ihm, brannten auf seiner Haut, gleich der Eiseskälte des Winters.
Es war eine Rückantwort seines Vaters, die ihn unweigerlich dazu brachte schwer zu schlucken.
Er hatte eingewilligt, wollte in drei Sonnenaufgängen auf der Mohnblumenwiese erscheinen und dies allein. Sein Leben für das seines Sohnes, so schrieb er. Darunter gesetzt war seine unverkennbare Unterschrift zu sehen, daneben prangte das königliche Siegel, welches einen Seeadler verkörperte - das Wappentier Bardos.Mit zittrigen Händen gab er Elody, die ihm auffordernd die Finger entgegenstreckte, das Schreiben zurück. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. „Elody, das kannst du nicht tun. Er ist noch immer unser Vater. Dein Vater."
Prustend begann sie zu lachen. „Er ist mein Erzeuger, nicht mehr! Das Einzige, das ich diesem Mann zu verdanken habe, ist mein Leben und damit die Möglichkeit endlich etwas zu ändern."
Theon richtete sich etwas weiter im Sitzen auf. „Was hat er dir so Schlimmes angetan, dass du ihn tot sehen willst? Dass du uns alle tot sehen willst?" Jede Faser seines Körper schrie danach etwas zu unternehmen, das unausweichlich Wirkende zu verhindern. Doch wie?
Er spielte mit dem Gedanken, Elody einfach zu überwältigen, sie zu Boden zu ringen. Aber was dann?
Niemals würde er sie ihres Lebens berauben können. Ihre Augen mochten nur so vor Hass sprühen und ihre Worte mochten verletzender sein als die Spitze eines Dolches, aber sie war noch immer ein Teil seiner Familie.
Einer, der ihm so wichtig war, dass er sein eigenes Leben aus Spiel setzte.
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Veilchenblau
Historical Fiction„Ist es wirklich wahrhaftige Liebe, die wir füreinander empfinden, oder ist es nur die Verpflichtung, die uns miteinander verbindet?" Über den Zeitraum von vier Jahrzehnten herrschten Uneinigkeit und Unruhe zwischen den beiden mächtigsten Königreic...