Zeit für Ehrlichkeit

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Clair

Völlig außer Atem knallte sie die Tür hinter sich zu, eilte zum Fenster, um zu sehen, ob Bone ihr gefolgt war. Doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

„Was ist los?"
Beinahe hatte sie schon vergessen, dass Fia  hier auf sie gewartet hatte. Sie wandte sich der Schwester ihres Retters zu, in deren Augen sich Verwirrung widerspiegelte.

„Ich ... ich ...", stotterte Clair, unfähig weitere Worte auszusprechen. Die Angst ließ ihr Herz noch immer rasen. Die Gedanken in ihrem Kopf waren ein undurchdringliches Chaos.
Er hatte sie gefunden und war bereit dazu über Leichen zu gehen, um sie zurückzubringen.
Der arme Nachbar. Sie kniff die Augen zusammen, als sich das Bild von ihm, wie er stöhnend vor Schmerzen auf dem Boden gelegen war, wieder in ihr Bewusstsein schob. Das war ihre Schuld. Was wenn er Ari auch so zurichtete? Oder schlimmer noch - was, wenn er ihn sogar tötete?
Dann würde sie ebenfalls die Schuld daran tragen. Sie wäre verantwortlich dafür, wenn Fia ihren Bruder verlor.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, bei diesen Menschen einzukehren? Wieso war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie sie damit in Gefahr brachte?
Hatte sie wirklich geglaubt, sie wäre hier sicher? Oh, wie naiv sie doch war! Sie verfluchte sich selbst.

Während sie damit rang, sich zu beruhigen, tat Fia einige Schritte auf sie zu und legte ihr die Hand an die Schulter. „Atmen, Lyra. Du musst atmen."

Lyra. Wieder wurde Clair bewusst, dass sie der Frau, die gerade so bemüht darum war ihr zu helfen, angelogen hatte. Wenn sie erfuhr, wer sie in Wirklichkeit war und was ihrem Bruder deswegen widerfahren war, dann würde sie sie hassen. Ganz sicher. Zu recht.

„Bitte, versuche dich doch zu beruhigen", redete die Rothaarige weiter auf Clair ein und dies mit so einer Sanftheit in der Stimme, dass die Prinzessin nicht anders konnte als zu weinen. Salzige Tropfen kullerten über ihre Wangen, tropften auf den oberen Saum ihres Kleides.

„Es ... es tut mir so leid", stammelte sie, wich Fias Blicken dabei aus, die so voller Unwissenheit waren.

„Was, Lyra? Was tut dir leid? Hat dir jemand weh getan? Hat unser Nachbar ..."

„Nein, nein", fiel Clair ihr ins Wort, da sie nicht wollte, dass jemand den armen Mann  beschuldigte unschöne Dinge getan zu haben. Das verdiente er nicht. Genauso wenig wie er es verdient hatte, von Bone gefoltert zu werden. „Ich ... ich glaube, es wird Zeit, dass ... dass ich euch die Wahrheit erzähle, aber zuerst ..." Sie wollte sagen, dass sie zurück zur angrenzenden Hütte mussten, um Ari zu helfen, da flog die Tür auch schon auf.
Der junge Mann kam ins Innere gestrauchelt, hielt sich die Hände vor die Augen.

„Ari!", kreischte Fia sofort und ließ von Clair ab, um ihren Bruder zu stützen. Sie griff ihm unter den Arm und half ihm hinüber auf einen der Stühle zu kommen.

Clair wurde kreidebleich bei seinem Anblick. Übelkeit machte sich in ihrer Magengrube breit.
Blut klebte ihm an den Wangen und als er die Hände senkte, konnte sie den Ursprung von diesem ausmachen. Seine Augen, seine schönen, dunkelbraunen Augen, waren völlig entstellt. Von den funkelnden Iriden war gar nichts mehr zu erkennen und das Weiß der Augäpfel mischte sich mit der Farbe Rot.

„Was ist passiert?", fragte Fia erneut, doch dieses Mal ohne den zärtlichen Unterton. Sie wandte Clair das Gesicht zu, die sich just in diesem Moment einfach auf den Boden übergab. Das war zu viel für ihr empfindliches Gemüt gewesen. Der Anblick von Ari war schlimmer noch für sie, als es das Gemetzel am Strand gewesen war.
Auch da war viel Blut zu sehen gewesen, Tote waren im Sand gelegen, doch keiner von diesen hatte so schrecklich ausgesehen.

VeilchenblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt