Prolog

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Tannenzweige knackten unter jedem ihrer Schritte. Die nach Harz und feuchtem Moos riechende Luft füllte ihre brennenden Lungen. Regen kämpfte sich durch die dichten Baumkronen über ihrem Kopf, benetzte ihr schneefarbenes Haar und durchtränkte die Lumpen, die ihren kindlichen Leib bedeckten.

Immer wieder sah sie im Rennen über ihre Schulter, der Ausdruck von Abgehetztheit verzerrte ihre weichen Züge. Sie konnte nicht mehr, doch sie zwang ihre schmerzenden Beine dazu, sich immer weiter zu bewegen. Wenn sie jetzt stehenblieb, dann würde sie wieder erwischt werden.

Schon oft hatte sie versucht über diesen Weg zu fliehen, weshalb sie genau wusste, wann es galt über einen umgestürzten Baum zu springen, oder sich durch Dornengestrüpp zu schlagen. Tatsächlich gelang es ihr weiter zu kommen, als jemals zuvor. Ein hoffnungsvolles Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

Ja, vielleicht würde es ihr heute endlich gelingen.

Doch schon kurz darauf wurde ihre Euphorie im Keim erstickt. Unbekanntes Gebiet brachte sie dazu, innezuhalten.
„Nein", das Wort war nicht mehr als ein kraftloses Hauchen. 

In ihrem Rücken ertönte lautes Getrampel. Sie biss sich auf die Unterlippe, suchte in Gedanken panisch nach einem Ausweg.

Wenn sie weiter geradeaus lief, über das Moorgebiet, das sich vor ihr auftat, dann würde sie dort mit Sicherheit den Tod finden.
Umzukehren kam auch nicht in Frage. Sie würde ihnen direkt in die Arme rennen.

Ihr Atem ging immer schneller. Von Angst erfüllt wanderte ihr Blick über den stinkenden Morast, der alles und jeden in seine Tiefen zog. Setzte man nur einen Fuß hinein, steckte man fest und kam nicht wieder heraus. Nicht von allein.

Und doch, auch wenn sie sich dessen bewusst war, dass sie es niemals schaffen würde auf die andere Seite zu gelangen, war es ihr lieber, als sich erneut ergreifen zu lassen.

Der Ausdruck von Entschlossenheit  breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Entweder du stirbst wie ein Löwe, oder endest wie ein verschüttetes Glas Milch.

Gerade als sie weiterlaufen wollte, spürte sie aber schon die kräftige Hand eines Jungen, der sie nach hinten riss.
„Lass mich los!", kreischte sie, schlug blindlings um sich.

Sie traf ihn mehrmals, aber ihre Fäuste waren zu klein, als dass sie mit ihnen etwas hätte ausrichten können.
Spielend leicht warf der Bursche sie über seine Schulter, als wäre sie nichts weiter als Gepäck und trat wortlos den Rückweg an.

Währenddessen trat und hieb sie weiter auf ihn ein, schrie unentwegt, warf ihm Schimpfwörter an den Kopf.

Schon wenig später ging ihr allerdings die Kraft aus. Stille Tränen kullerten über ihre porzellangleichen Wangen. „Wieso tut ihr das?", schluchzte sie. „Wieso ..."

Es kam keine Antwort. Frustriert über das Schweigen des Jungen, der nicht viel älter, aber um einiges größer und muskulöser war als sie, fand sie ihren Kampfgeist wieder.

Kurzerhand umklammerte sie einen Ast und hielt sich daran fest. Überrascht von dem plötzlichen Widerstand, lockerte sich sein Griff und sie entglitt ihm.
Mit einem dumpfen Knall schlug ihr kleiner Körper auf dem Waldboden auf.

Schnell wie der Blitz versuchte sie erneut das Weite zu suchen, aber der Junge hatte längere Beine, holte sie nach wenigen Herzschlägen ein und packte sie am Handgelenk.

„Nein!", schrie sie wild, ihre Finger suchten nach einer geeigneten Waffe, die sie auch fanden. Sie bekam einen dicken Stock zu fassen, entriss ihm dem Gestrüpp und donnerte ihn dem Jungen ins Gesicht.

Er brüllte auf, vor Überrumpelung und Schmerz gleichermaßen.
Erschrocken betrachtete sie das Blut, das ihm über die Stirn rann, über sein rechtes Auge, sein Kinn und schließlich auf seine braunen Lumpen tropfte.
Der Stecken fiel zu Boden.

Das hatte sie nicht gewollt. Niemals war es ihre Absicht gewesen, ihn ernsthaft zu verletzen.
Sie wollte weiter rennen, ihre Chance ergreifen, aber sie war wie gelähmt.

„Das wirst du bereuen", zischte der Bursche, presste sich die Hand auf die Wunde. Doch anstelle von Zorn funkelte in seinen silbergrauen Augen so etwas wie Anerkennung. „Das war mutig, aber auch sehr dumm von dir."

Er hob das Geäst auf, das sie zuvor als Waffe benutzt hatte und schlug es nun ihr ins Gesicht. Sie jaulte wie ein geschlagener Hund, taumelte von der Wucht des Hiebs nach hinten, spürte, wie die Haut an der getroffenen Stelle aufriss und sich heißes Blut über ihrem Antlitz ergoss.

Sie weinte bitterlich. Einen solch schlimmen Schmerz hatte sie nie zuvor verspürt. Ihr wurde schlecht, sie hatte Angst. Verflucht, sie war doch nur ein Kind.

Auch der Junge schien das nun zu begreifen, presste ihr ein Tuch auf den tiefen Schnitt, der ihre weichen Züge nun entstellte, sie nicht länger wie ein kleines, unschuldiges Mädchen aussehen ließ. 

„Betrachte es als Erinnerung", raunte er, offenbar überfordert von ihrem Schluchzen und Plärren. „Als Erinnerung daran, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann."

VeilchenblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt