Kapitel 8 - Freundschaftsdienst

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Freundschaftsdienst

Nach diesem vorerst letzten Tiefpunkt schaffte ich es einige Tage, so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten und das gelang mir hauptsächlich dadurch, dass ich meinen ganzen Tag mit Arbeit und Aufgaben vollstopfte, um nur ja keine freie Minute zum Nachdenken zu haben.

Ich nahm meine Arbeit als Fotograf wieder auf, koordinierte die Aufträge, besorgte mir endlich ein neues Handy und kümmerte mich um so profane Dinge wie Einkauf oder Aufräumen. Jede freie Minute verbrachte ich außerdem im Krankenhaus bei meiner Familie und telefonierte zwischendurch endlich mit Hoseok, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Hobi war zwar mein Ex-Freund, aber darüber hinaus auch mein bester Freund – vielleicht noch mehr, seit es uns als Paar nicht mehr gab.

Er kannte meine Familie und meinen Platz in dieser nicht immer einfachen Konstellation, also wusste er, auch ohne große Erklärung, wie es mir im Moment ging. Von Suga erzählte ich nicht, weil ich noch nicht mal gewusst hätte, was ich über ihn sagen oder wo ich beginnen sollte. Abgesehen davon weigerte ich mich strikt, ernsthaft über ihn nachzudenken und solange das funktionierte, wollte ich mein Glück nicht herausfordern. Auf Dauer konnte das natürlich nicht gutgehen, das war mir schon klar, doch der Einbruch kam zunächst unmerklich, Stück für Stück, schleichend, bis ich längst viel zu tief darin verstrickt war.

Während wir als Familie also vorerst aufatmeten, als Kyung endlich aufwachte, wurden wir sofort danach in den nächsten Abgrund an nicht enden wollenden Hiobsbotschaften gestoßen. Kyung würde nie wieder derselbe sein, erklärte uns sein Arzt mit ernster Miene. Er würde nie wieder richtig sprechen können, nicht mehr richtig laufen, sein linker Arm war nutzlos und er würde immer auf Hilfe angewiesen sein. Das schlimmste aber war, Kyung wusste nicht mal, was mit ihm passiert war. Er hatte Panikattacken, entwickelte eine Angststörung, doch was mich am meisten schockierte, war der Moment, als er weinend in seinem Bett saß, gefangen in einer Angst, deren Auslöser er so wenig kannte, wie er einen Ausweg dafür fand. Dieser Mensch hatte nichts mehr mit meinem Bruder gemein und ich bekam Mitleid mit dem Mann, der er geworden war. Etwas, das er niemals gewollte hätte, etwas, wofür er mich abgrundtief gehasst hätte.

Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich begann, mich wieder mehr und mehr von meiner Familie zurückzuziehen und damit kehrten meine eigenen Schatten zurück. Ich konnte das mit Kyung nicht verarbeiten, hatte Suga längst nicht vergessen und was in der Zeit danach passierte, war vermutlich unvermeidlich. Auch wenn ich mich standhaft weigerte, die Geister, die mich begleiteten, Wahnvorstellungen zu nennen, so hätte vermutlich jeder Arzt es genau so bezeichnet. Es wurde so schlimm wie in den ersten Wochen, zum Teil noch schlimmer und auch meine Angstzustände nahmen Ausmaße an, die mich massiv einschränkten. Und in einem wachen, vernünftigen und realen Zustand wusste ich, dass es am besten gewesen wäre, einen Arzt aufzusuchen, trotzdem schob ich diese Möglichkeit stur vor mir her, ohne sie zu ergreifen. Meine Familie hätte vermutlich ebenfalls genau das verlangt und das war genau der Grund warum ich sie für gewöhnlich nicht über meinen aktuellen Zustand informierte. Unser gemeinsamer Leidensweg war lang genug gewesen und ich hatte es schlichtweg satt, mir von ihnen vorschreiben zu lassen, was richtig war und was nicht.

Meine Sehnsucht nach Geborgenheit manifestierte sich ausgerechnet in dem einzigen Mann, den ich nicht haben konnte. Natürlich war das ungesund, zumal außer einigen Küssen nichts zwischen uns passiert war und die letzte kalte, abweisende Abfuhr mich doch hätte wachrütteln müssen. Trotzdem, oder gerade deswegen – weil meine Fantasie verrücktspielte – wollte ich am liebsten die Zeit zurückdrehen. Dieser unerfüllbare Wunsch stieß mich zusätzlich in ein tiefes Loch aus Selbstmitleid und ich brachte Stunden damit zu, in eine Decke eingewickelt auf meinem Sofa zu kauern und das kaputte Silberkettchen in den Fingern zu drehen. Ich starrte auf ein Schmuckstück, dass vermutlich irgendwem gehörte, nur nicht Suga, und wünschte mir, er würde zurückkommen und mich retten. Auch wenn ich nicht sagen konnte, wie diese Rettung schlussendlich aussehen sollte. Schließlich war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich meine Wohnung nicht mehr allein verlassen wollte und das war dann endlich auch der Augenblick, der mir klarmachte, dass ich schleunigst Hilfe brauchte.

Blood, sweat and tears [Taegi]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt