Kapitel 23 - Weihnachtsflüchtling

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Weihnachtsflüchtling

Vielleicht war es unklug gewesen, mich dagegen aufzulehnen, aber nachdem ich weggeschickt worden war wie ein Kind, nach meinem Treffen mit Hoseok, nach den endlosen Tagen, in denen ich gewartet hatte, ob Suga sich melden würde, war meine Stimmung am Boden. Es war kurz vor Weihnachten, alle waren glücklich, nur ich hockte allein zu Hause und sehnte mich nach einem Kerl, der mich offenbar nicht wollte. In diese trübsinnige Stimmung hinein, kam der Anruf meiner Schwester wie ein Rettungsanker.

Eigentlich wollte sie nur wissen, ob ich denn zum traditionellen Weihnachtsessen nach Hause kommen würde und traf damit unwissentlich einen wunden Punkt. Obwohl meine Mutter und meine beiden jüngeren Geschwister großen Wert auf diese Tradition legten, hatte ich sie in den letzten Jahren zeitweise bewusst ignoriert. Okay, zusammen mit Hobi hatte ich einmal an einem dieser Essen teilgenommen und es im Nachhinein bereut. Obwohl Hoseok sich wirklich alle Mühe gab und sich offenbar auch bestens mit meiner Mutter unterhielt, fühlte ich mich wie bei einem Spießrutenlauf. Ich achtete auf jede Kleinigkeit, wie er mich berührte, ob er mich berührte, ob es meine Mutter sah und wie sie es wohl aufnahm. Dabei geschah überhaupt nichts. Und auch wenn Hobi hinterher meinte, dass es schön gewesen wäre bei meiner Familie, erklärte ich es zum schlimmsten Weihnachten überhaupt. Wie schön es gewesen wäre, nur wir beide allein, als Paar - zu einer weiteren Möglichkeit, das herauszufinden, kam es nicht.

Aber dieses Jahr bot mir Danbi unwissentlich die Möglichkeit, aus meinem chaotischen Leben zu fliehen und ich nahm es dankbar an. Es waren noch zwei Tage bis Weihnachten und mein Ausflug würde mich ablenken, mich auf andere Gedanken bringen und das würde mir sicher guttun.

Wie immer, wenn ich Weihnachten zu meiner Familie zurückkehrte, herrschte dort hektische Betriebsamkeit, wenn es auch dieses Mal weniger von meiner Mutter ausging, sondern von den beiden jungen Frauen, die durch das Haus wirbelten. Das eine Energiebündel meine Schwester, das andere - im selben Alter - die neue Freundin von Sehun. Olivia, wie sie mir vorgestellt wurde.

Liv war das absolute Gegenteil meines Bruders, aufgedreht, quirlig, blond mit einer Million Sommersprossen und einem Lächeln, das so ansteckend war, dass man es gar nicht schaffte, sie nicht zu mögen. Ich wurde umarmt, auf die Wange geküsst und in die Küche gezogen, bevor ich überhaupt begriff, was hier geschah.

Dort herrschte das übliche unübersichtliche Weihnachtsessen-Vorbereitungschaos und das Einzige, was definitiv anders war, war meine Mutter. Sie schien wie ausgewechselt inmitten dieser beiden jungen Frauen, die um sie herumschwirrten und quittierte sogar meine ausgewaschene Haarfarbe nur mit einem kurzen Zucken der Augenbraue.

Offenbar war sie glücklich, etwas, das ich in so ausgeprägter Form schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte und auch jetzt fehlten mir die Worte.

„Mom", sagte ich also nur. Meine Stimme kratze und ich flüchtete mich rasch in ihre Umarmung. Es tat gut, hier zu sein, auch wenn mir Danbi kaum Zeit ließ, wirklich anzukommen.

Wir hätten noch unzählige Dinge zu erledigen, meinte sie, und dass sie froh wäre um jede helfende Hand. So wurde ich eingeteilt mich um den ganzen Männer-Dekokram zu kümmern, was bedeutete, dass ich mit Sehun den halben Tag damit beschäftigt war, Weihnachtskisten vom Dachboden zu schleppen, Lichterketten zu entwirren und dann - ganz große Geste - durften die beiden Männer auch noch den Baum aufstellen. Schmücken durften wir nicht, das war offenbar Frauensache, also lümmelten wir zusammen faul auf dem Sofa, gaben von dort fachmännische Anweisungen und genossen jeden bissigen Kommentar der beiden Frauen. Ich musste feststellen, dass ich mich schon gar nicht mehr erinnern konnte, wann ich zuletzt einfach nur mit meinem Bruder zusammen gelacht hatte und wie sehr ich es vermisst hatte.

Blood, sweat and tears [Taegi]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt