Sarina
"Jetzt noch einmal tief ein- und ausatmen, Frau Mancuso", sagt mein Hausarzt zu mir, und ich tue wie geheissen, während er mit dem Stethoskop aufmerksam meine Lunge abhorcht. "Ja, so ist es gut, und noch einmal einatmen, bitte", weist mich der Arzt an.
Er ist ein attraktiver Mann kurz vor der Pensionierung, hat enorm viel Erfahrung und ist ein kompetenter Arzt.
Nichts desto trotz versuche ich es, wenn möglich zu vermeiden, in eine Arztpraxis gehen zu müssen. Mir ist es immer ein wenig peinlich, wenn ich mich untersuchen lassen muss, und stechen lasse ich mich schon gar nicht gern.
Aber ich habe seit längerem einen hartnäckigen Husten, der einfach nicht von selbst verschwinden will."Ich nehme Ihnen noch etwas Blut ab, dann sehen wir weiter", informiert mich der Doktor gerade und legt die Utensilien bereit.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf die Liege zu legen. "Jetzt gibt's einen kleinen Stich, bitte nicht erschrecken", sagt er und sticht gekonnt eine Vene an. Erleichtert stelle ich fest, dass der Pieks nur halb so schlimm ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe.
Nach einiger Zeit hat er die Blutwerte vor sich und meint: "Eine Lungenentzündung haben Sie zum Glück nicht, Frau Mancuso. Ich gebe Ihnen ein Medikament gegen den Hustenreiz sowie einen klassischen Hustensirup mit. Wenn Ihre Beschwerden bis in einer Woche nicht deutlich abklingen, melden Sie sich bitte wieder bei mir."
Ich verabschiede mich dankend von ihm und bin erleichtert, die Praxis wieder verlassen zu dürfen.
Zu Hause angelangt, nehme ich ein Inserat zur Hand, das mir gestern im Internet aufgefallen ist. Darin wird meine Lieblingsuhr als Second Hand Uhr angeboten, und ich setze eine Antwort auf, die ich nach reiflicher Überlegung dann auch abschicke.
Laurian
"Guten Tag
Schon seit einigen Jahren habe ich die Segeluhr mit dem schiefergrauen Zifferblatt im Auge, meines Erachtens die eleganteste der Sport-Modelle der Marke Ramonia. Die Uhr in Ihrem Inserat ist in einem ausgezeichneten Zustand und wird noch dazu in der Schweiz angeboten. Dazu habe ich zwei Fragen:
Wurde die Uhr bereits revidiert und wenn ja, wann war das?
Wäre grundsätzlich eine Übergabe in Zürich oder Umgebung möglich?
Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Antwort und grüsse Sie freundlich
Sarina Mancuso"Ich lese die Nachricht auf mein Inserat, in dem ich eine getragene Segeluhr anbiete, mehrere Male durch. Sie ist bemerkenswert freundlich und auch sachverständig verfasst, aber was mich richtig stutzig macht: Sie ist von einer Frau unterschrieben. Das ist sehr ungewöhnlich, ist doch das Uhrengeschäft - und speziell der Graumarkt - normalerweise fest in Männerhänden.
Zudem habe ich schon ganz andere Zuschriften erhalten, so nach dem Motto: "Zahle dir die Hälfte bar auf die Hand bei Übergabe, aber nur bis morgen abend"... oder "Sie haben die Möglichkeit, mir eine Freude zu machen, ich kann Ihnen die Hälfte bieten" oder ähnlich stumpfsinnige Versuche den Preis runterhandeln.
Es hat Stil, dass sie nicht gleich auf den Preis abzielt, sondern zuerst die Uhr rühmt und dann eine Frage zum Service stellt. Ich überlege mir, was sie wohl für ein Mensch ist. Ist sie jung, alt, mittelalterlich? Vom Namen her lässt sich das nicht ableiten. Ist sie attraktiv, selbstsicher, überheblich? Allzu scheu dürfte sie wohl nicht sein, sonst würde sie sich nicht getrauen, eine Uhr auf dem Graumarkt zu kaufen. Und hat sie das Geld selbst verdient oder hat sie einen reichen Mann geheiratet?
Ich entschliesse mich, dass ich sie gern treffen möchte und verfasse meine Antwort:
"Sehr geehrte Frau Mancuso, für Ihre Antwort danke ich Ihnen bestens. Zufällig weile ich in nächster Zeit für einige Wochen in der Nähe von Zürich und könnte Ihnen anbieten, dass Sie bei einem ersten Treffen die Uhr unverbindlich besichtigen, bevor Sie sich zu einem Kauf entschliessen müssten. Revidiert wurde die Uhr übrigens noch nie.
Mit freundlichen Grüssen
Laurian Artocin"Schon nach wenigen Minuten kommt die Antwort:
"Sehr geehrter Herr Artocin, für die schnelle Antwort danke ich Ihnen herzlich. Sehr gern nehme ich das Angebot an und treffe Sie nächstens in Zürich. Mir würde es nächste Woche am Dienstagabend oder am Donnerstag den ganzen Tag gehen. Bitte geben Sie mir Bescheid, ob Ihnen einer der Termine passt.
Mit freundliche Grüssen
Sarina Mancuso"Ebenso schnell antworte ich: "Nächsten Dienstag abend um 19:00 passt perfekt. Wie wäre es im Café Hüpferli am Wendeplatz?"
Sie antwortet: "Das passt wunderbar. Ich bin relativ gross und werde ein weisses Kleid und einen beige farbenen Poncho tragen. Und Sie erkenne ich ja an der Segeluhr am Handgelenk ;-)"
Ihr lässiger Schreibstil löst in mir ein Kribbeln aus, trotzdem schreibe ich nur ganz kurz: "Ich freue mich."
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Die Uhr des Dr. Artocin
RomanceEigentlich wollte sich Sarina nur eine schöne Uhr kaufen, doch dabei trifft sie auf den charismatischen Laurian Artocin, der sie nicht nur fasziniert, sondern auch aus ihrer Komfortzone lockt.