Die nächsten beiden Tage vergingen ziemlich ereignislos. Ivo und ich taten so als wäre alles so wie immer und keiner von uns erwähnte den Beinahe-Kuss mit einer Silbe. Ich hatte kurz versucht mir einzureden, dass ich mir den Moment eingebildet hatte, aber es hatte nicht geklappt. Dafür war er zu - intensiv.
Wenn ich die Augen schloss, versuchte ich mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn ich keinen Rückzieher gemacht hätte. Ich fragte mich, ob ich mich wohl gefühlt hätte - ob es das gewesen wäre, was ich wollte. Ich hatte nie über sowas nachgedacht - mein ganzes Leben hatte ich einfach nach meinem Bauchgefühl gehandelt und wenn sich eine Gelegenheit mit einem attraktiven Typen ergeben hatte, dann hatte ich sie ohne drüber nachzudenken genutzt.
Und jetzt sowas.
Meine Gedanken wurden von Ivo unterbrochen, der ins Zelt gekommen war. ,,Was tust du?", fragte ich verwundert und beobachtete, wie er seinen Schlafsack einrollte. ,,Wir sind schon viel zu lang an einem Ort und seit wir mit dem Taxi hergekommen sind, habe ich ein ungutes Gefühl. Wir sollten in Bewegung bleiben!", sagte er, während er die Schnüre festzog.
,,Und wo wollen wir hin?", fragte ich, während ich in die Hocke ging und mich daran machte meinen eigenen Schlafsack zusammenzurollen. ,,Wir bleiben in Madrid, schließlich müssen wir warten bis Alejo Neuigkeiten für uns hat, aber wir switchen auf ein Hostel oder sowas um!", teilte er mir entschieden mit. Scheinbar hatte er das ausführlich durchdacht.
,,Hat Alejo mittlerweile seinen Kontakt erreichen können?", hakte ich nach und lehnte mich dabei mit meinem ganzen Gewicht auf den Stoffhaufen, damit ich ebenfalls die Schnüre darum wickeln konnte.
,,Er hat sich vorhin kurz gemeldet und meinte, dass er sich morgen früh mit ihm trifft!" Ich nickte, auch wenn Ivo es nicht sehen konnte. Wir sammelten all unsere Sachen ein, die ein wenig mehr geworden sind, seit wir hier waren. Ich hatte mittlerweile vollkommen mein Zeitgefühl verloren. Ich wusste nicht mehr, ob ich Ivo vor zwei Wochen oder vor einem Monat begegnet war - der Entzug war mir nur noch verschwommen in Erinnerung, doch eine knappe Woche musste ich mindestens gebraucht haben, um wieder einigermaßen lebensfähig zu sein.
Der Entzug.
Meine Gedanken wanderten zu den Drogen. Und zu dem Gefühl, was sie in mir ausgelöst hatten - ein Gefühl, das ich immer noch vermisste. Wenn ich jetzt high wäre, dann würde ich mir all diese Gedanken um Ivo nicht machen. Dann würde ich mir all die Gedanken, die um mich selbst und meine psychische Gesundheit kreisten nicht machen. Und auch nicht die, wie es werden würde, sobald ich wieder in Deutschland wäre. Wie lange würde meine Schonfrist dauern bis jeder von mir erwartete, dass ich wieder in meinen Studienalltag einstieg? Momentan fühlte es sich wie ein Ding der Unmöglichkeit an, überhaupt an sowas wie einen normalen Alltag zu denken.
Gegen Nachmittag hatten wir alle Sachen in das Auto gepackt und nachdem Ivo gezahlt hatte, verließen wir den Campingplatz. Wir hatten bei unserer Abreise bewusst einen Bogen um Julia und ihre Freunde gemacht, da wir keine neugierigen Fragen gebrauchen konnten. Ich fühlte mich ein bisschen schlecht deswegen, weil sie so gastfreundlich gewesen waren und wir uns nun ohne Abschied aus dem Staub machten. Doch wir waren nun mal nicht zum Spaß hier. Wir mussten uns so gut wie möglich die Zeit vertreiben, aber wir mussten keine Freunde finden.
Da wir in den Feierabendverkehr gerieten, kamen wir erst gegen neunzehn Uhr in einem Motel an. Es war nicht besonders groß - hatte vielleicht zwanzig Zimmer, die man über einen überdachten Flur erreichte. Uns wurde Zimmer Nummer elf zugeteilt und auch, wenn es mir auf dem Campingplatz recht gut gefallen hat, war ich insgeheim froh, dass wir endlich mal wieder drinnen schliefen. Der Herbst erreichte mittlerweile immer kühlere Temperaturen, weshalb es im Zelt nachts wirklich kalt wurde.
Ivo ging zuerst duschen und ich räumte in der Zwischenzeit das nötigste aus unserer Tasche aus. Als sich die Badezimmertür öffnete, schnappte ich mir intuitiv meine Schlafsachen, die ich auf dem Bett bereit gelegt hatte, ehe ich mich umwandte. Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Ivo hatte noch feuchtes Haar und trug seine graue Jogginghose, die tief auf seinen Hüften saß. Über seinen Schultern hing ein Handtuch und in der Hand hielt er ein ziemlich nass aussehend Shirt.
Ich brauchte ein paar Sekunden bis ich meine Sprache wiederfand und meinen Blick von seiner nur halb von dem Handtuch verdeckten Brust losreißen konnte. ,,Was ist denn damit passiert?", fragte ich, bemüht um einen lockeren Tonfall und deutete auf das Shirt in seiner Hand, im selben Moment, wie er sagte: ,,Leg deine Sachen nicht in die Nähe der Dusche, die Tür ist undicht!"
Ich spürte, wie mir schon wieder diese für mich so untypische Hitze ins Gesicht stieg. Ich wollte den Blick abwenden, doch ich konnte nicht. Ich beobachtete Ivo, wie er mit wenigen Schritten den Raum durchquerte und dir Tasche vom Boden aufhob und auf einen der zwei Stühle stellte. Er legte das Handtuch auf den Tisch neben sich und ich schluckte, als ich sah, wie sich ein Wassertropfen aus seinen Haaren löste, auf sein Schlüsselbein tropfte und über seine Bauchmuskulatur kullerte, bis er im Bund seiner Hose verschwand.
Hitze stieg in mir auf und breitete sich in Blitzgeschwindigkeit in meinem Körper aus. Ivo zog sich eins der frischen Shirts über den Kopf und seine nackte Haut verschwand unter dem Stoff - die Gefühle, die dieser Anblick in mir ausgelöst hatten, jedoch nicht.
,,Alles okay?", fragte Ivo plötzlich und ich sah ihm ertappt ins Gesicht. Ein wissendes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. ,,Äh ja, ich war - egal. Ich geh auch schnell duschen!", stammelte ich, immer noch ein wenig aus dem Konzept gebracht und ging an ihm vorbei ins Bad. Ich legte meine Kleidung weit entfernt von der Dusche ab und entledigte mich dann der Sachen, die ich gerade trug, ehe ich unter den warmen Wasserstrahl stieg. Erst dort schlug ich peinlich berührt die Hände vors Gesicht und fragte mich, was genau eben passiert war.
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Lo Que Necesitas - Was du wirklich brauchst
Romantizm[Teil 2] VORSICHT: SPOILER ZU TEIL 1 Als Laurel dem Fremden die Tür öffnete, hätte sie nie damit gerechnet, dass er sie betäuben und entführen würde. Wieso auch? Sie hatte keine Feinde. Und doch war es passiert und sie fand sich in Spanien wieder. M...