Treinta y uno

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Zwei Tage. Zwei Tage.

Seid Ivo mir gesagt hatte, dass es noch zwei Tage dauern würde, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Und ich hasste es.

Ich wollte mich freuen. Erleichterung spüren. Doch ich konnte nicht. Alles, was ich fühlte war Angst. Angst, wie mein Leben weitergehen sollte, wenn ich wieder zu Hause wäre. Angst davor, dass ich es nicht mehr schaffen würde, da weiter zu machen, wo ich aufgehört hatte. Angst davor, allein zu sein. Angst davor, Ivo nicht mehr um mich zu haben. Ich könnte allein bei dem Gedanken daran weinen.

Ich brauchte ihn. Er war der Einzige, der mich verstehen würde - das wusste ich, denn er war der Einzige, der mich gesehen hatte, als ich an dem tiefsten Punkt, an dem ich je in meinem Leben gestanden hatte, angelangt war. Er hatte mich gebrochen gesehen und mir geholfen mich wieder zusammenzusetzen - wenigstens ein bisschen.

Den anderen - meinen Eltern - meinen Freunden, konnte ich vielleicht davon erzählen, aber sie würden nicht wissen, wie es wirklich war. Sie würden mich nicht so verstehen können, wie Ivo es tat. Und das war das Schlimmste. Ivo. Denn das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich  hatte ihm so viel abverlangt und würde mich nicht dafür revanchieren können. Und noch schlimmer war, dass ich nicht wusste, ob ich ihn jetzt schon vermisste, eben weil er der einzige Mensch auf dieser Welt war, der mich verstehen konnte oder um seinetwillen.

Ich fühlte mich grausam, denn ich fragte mich selbst immer und immer wieder, ob dieser Kuss im Auto richtig gewesen war. Ob ich ihn küssen wollte, weil er da war und ich so dankbar war oder - um seinetwillen? Es war nicht fair ihn zu küssen, ohne, dass ich diese Frage beantworten konnte.

Ich wollte sein Leben aber auch nicht komplizierter machen, als ich es ohnehin schon tat, also würde ich den Kuss nicht erwähnen, solang er es nicht tat. Er sollte entscheiden, ob er sich damit auseinander setzen wollte, falls es da für ihn überhaupt etwas zum auseinander setzen gab. Er hatte mir in unserem ersten richtigen Gespräch gesagt, dass er nicht auf der Suche nach etwas lockerem war und mehr konnte über eine Landesgrenze hinweg nicht entstehen, das wusste ich und das wusste er.

,,Bist du noch wach?", riss Ivo mich aus meinen Gedanken. Eine Sekunde spielte ich mit dem Gedanken so zu tun, als würde ich schlafen, besann mich dann aber eines Besseren. ,,Ja", flüsterte ich und drehte mich zu ihm um. ,,Ist alles okay?"

Ich schwieg einen Moment und überlegte, ob ich lügen sollte oder ihm die Wahrheit sagte. ,,Ich mache mir Gedanken, wie es werden wird, wenn ich wieder in Hamburg bin!", gestand ich. Ivo bewegte sich ein wenig, sodass die Decke raschelte. Ich konnte nur seine Umrisse in der Dunkelheit erkennen.

,,Du machst dir Gedanken?", hakte er nach und seine Stimme war so sanft, wie er immer mit mir sprach, wenn er merkte, dass mich etwas belastete. ,,Ich habe einfach so Angst, dass es nie wieder so wird, wie es mal war! Dass ich nie wieder so werde, wie ich mal war. Und ich weiß nicht, wie ich das alles durchstehen soll ohne Jess und - ohne dich!" Das Ende des Satzes kam mir schneller über die Lippen, als ich darüber nachdenken konnte. Ich war unfair - ich durfte sowas nicht zu ihm sagen, in dem Fall, dass der Kuss für ihn wirklich etwas bedeutet hatte. Nicht solang ich mir nicht sicher war.

,,Ich kann nur wiederholen, was ich letztens schon zu dir gesagt habe. Denk nicht dran, was schief gehen könnte und was nicht so laufen wird, wie du es möchtest. Denk daran, was zu Hause auf dich wartet. Deine Familie wird für dich da sein und du hast mir von deinen anderen Freunden erzählt. Ich bin mir sicher, dass auch sie für dich da sein werden. Genau wie - Jon."

Ich war überrascht, dass er seinen Namen noch kannte. Mit seiner Aussage hatte er gleichzeitig Klarheit über unsere Situation geschaffen. ,,Ich versuchs", seufzte ich. Dann schwiegen wir. Und da war er wieder - trotz allem. Der Kuss, der irgendwie immer noch zwischen uns hing. Die Stille machte es nur allzu deutlich.

Keiner von uns sagte noch etwas und irgendwann driftete ich in einen unruhigen Schlaf ab.

***

Der nächste Tag verging irgendwie schnell und langsam zugleich. Als wir aufgewacht waren, hatte keiner von uns Lust aufzustehen, weshalb wir im Bett blieben und den Fernseher einschalteten. Die Stimmung zwischen uns lockerte sich im Verlaufe einer spanischen Comedy Serie, die ich nicht kannte, auf. Ich übersetzte ihm einige Wörter auf Deutsch, nach denen er mich vollkommen willkürlich fragte und konnte bei seiner Aussprache manchmal nicht anders, als lauthals zu lachen.

Er schien zum Glück in keinster Weise gekränkt, sondern ihm schien es zu gefallen, dass er mich zum Lachen brachte. Nachdem wir uns bis halb vier immer noch nicht aus dem Bett bewegt hatten, konnten wir unseren Hunger nicht mehr länger im Zaum halten. Kurzerhand rief Ivo bei einem Lieferservice an.

Wir verbrachten auch den restlichen Tag und den Abend im Bett. Wir eröffneten ein Netflix Konto mit einer Email Adresse, die er sich kurzerhand allein zu diesem Zweck erstellte und als Passwort wählten wir OsiTaBaerchen2024, weil er mich am Morgen völlig zusammenhangslos nach meinem Alter gefragt hatte, weshalb wir meins und seins als Zahlenkombi unseres Passwortes wählten.

Als unser Essen geliefert wurde, hatten wir uns für die Serie ,,The Witcher" entschieden, weil ich sie schon ewig auf meiner Watchlist hatte und immer noch nicht dazu gekommen war sie zu schauen, obwohl ich das Game auf meiner PS4 bereits mehrmals durchgespielt hatte. Ivo behauptete zwar, dass er sie auch sehen wollte, doch so ganz glaubte ich ihm das nicht. Ich war jedoch umso glücklicher, als er wirklich von der Serie gefesselt zu sein schien.

Schließlich weihte ich ihn auch ein, weshalb ich so gehyped war ,,The Witcher'' zu schauen. Er war wirklich ziemlich überrascht, dass ich zockte und im Spaß verabredeten wir uns für die Zukunft, um zusammen zu spielen, nachdem ich es ihm beigebracht hätte. Der ganze Tag war, obwohl wir noch nie so wenig getan hatten, einfach schön.

Ich hatte das Gefühl für einen Augenblick zur Ruhe zu kommen und ein ganz normales Leben zu leben und das fühlte sich gut an. Es wurde nur dadurch getrübt, dass ich wusste, dass unsere Zeit begrenzt war. Ich hasste Abschiede und ich wollte mir nicht vorstellen, wie der Moment sein würde, wenn wir uns gegenüberstehen und ich ihn das letzte Mal sehen würde, ehe er seine Spuren verwischen musste, weil seine Familie wusste, was er getan hatte.

Als wir am Abend den Fernseher ausgeschaltet hatten und schlafen wollten, war ich noch viel zu aufgekratzt. Dadurch, dass wir uns nicht wirklich bewegt hatten, hatte sich eine Menge überschüssige Energie in mir aufgestaut und ich konnte einfach nicht einschlafen.

Stattdessen kreisten meine Gedanken um Ivos Familie und das erste Mal fragte ich mich, was genau er eigentlich von deren Machenschaften gewusst hatte.

,,Schläfst du schon?", flüsterte ich, genau wie er die Nacht zuvor. ,,Nein", kam seine Antwort zurück. ,,Kann ich dich was fragen?" ,,Schieß los!" Ich zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. ,,Ich hab mich nur gefragt - wusstest du über das, was deine Familie tut Bescheid?" Stille.

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