Veinte

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Ich hatte Mühe meine Augen zu öffnen, weil sie völlig verklebt waren. Ich registrierte warme Haut an meiner und wusste sofort, dass es Ivos Haut war. Ich war in seinen Armen eingeschlafen und er hatte mich nicht losgelassen. Sein Arm musste halb abgestorben sein. Ich versuchte meinen Kopf in eine andere Position zu bringen, um ihn ein wenig zu entlasten.

Ich schielte nach oben zu seinem Gesicht. Er schlief noch - so wie immer. Wenn ich eins über ihn gelernt hatte, in der Zeit in der wir zusammen auf der Flucht waren, dann war es, dass er ein Langschläfer durch und durch war. Sein anderer Arm lag schwer auf meinem Bauch.

Ich mochte es in seiner Nähe zu sein - ich hatte das Gefühl ihm vertrauen zu können. Auch, wenn wir uns erst so kurz kannten. Ich betrachtete seine halb geöffneten Lippen, so wie ich es gestern Abend getan hatte. Ich wusste nicht, was da für eine Sekunde über mich gekommen war. Ich hatte schließlich gemerkt, dass ich definitiv nicht dafür bereit war, jemanden an mich auf diese Weise ranzulassen.

Außerdem hatte ich so die Ahnung, dass Ivo mich nicht auf diese Art sah. Wahrscheinlich sah ich ihn selber nicht auf diese Weise, sondern war einfach emotional völlig labil. Ich brauchte jemanden an dem ich mich festhalten konnte und er war für mich da. Das war alles. Wir würden das hier zusammen durchziehen und uns danach vermutlich nie wiedersehen. Wie auch? Seine Familie würde ja nicht einfach aufhören zu existieren, nur weil ich nach Deutschland zurückkehrte. Falls ich zurückkehrte.

Ich blieb noch eine Weile liegen und genoss einfach Ivos Wärme und Nähe. Dann rückte ich vorsichtig von ihm ab und legte seinen Arm neben ihn, ehe ich ein paar Klamotten zusammensammelte und in Richtung Waschhaus ging.

Nach einer kurzen Dusche, zog ich mich an und verließ das Waschhaus wieder, wobei ich fast mit jemandem zusammenstieß. ,,Das zweite Mal in Folge", sagte Carlos mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Das durfte jawohl nicht wahr sein - wie viel Pech konnte ein Mensch haben?

Carlos war dieses Mal jedoch scheinbar auf dem Weg ins Waschhaus. Er trug Sportkleidung und war verschwitzt - er schien vom Joggen zu kommen. Ich lächelte kurz, senkte dann den Blick und wollte weiter gehen.

,,Warte Mal, Laurel. Können wir kurz reden?" Nein, nein, nein.

,,Wenn es wegen des Kusses gestern ist. Tut mir leid, dass ich dich einfach so hab stehen lassen. Ist einfach kein guter Zeitpunkt im Moment", sagte ich schnell und wollte weiter gehen.

,,Laurel, warte bitte. Ist - scheiße, ich weiß gar nicht wie ich das sagen soll. Ich meine, vielleicht klingt das jetzt ziemlich komisch und gut möglich, dass ich gerade absolut falsche Schlüsse ziehe, aber ist dir - wurdest du -", er schien sichtlich bemüht um die richtigen Worte zu sein. ,,Wurdest du misshandelt?"

Mein Blick schnellte zu ihm hoch. Ich hatte für einen Moment vergessen zu atmen. Stand mir das so fett auf die Stirn geschrieben, dass sogar ein Random Typ, wie Ivo ihn gestern genannt hatte, erkannte, dass mit mir etwas nicht stimmte?

,,Ich-", ich schluckte. ,,Wie kommst du darauf?" ,,Meine Exfreundin kam aus einer Beziehung, in der - naja, sehr viel falsch gelaufen ist. Und deine Reaktion gestern war wie eine Art Déjà-vu . Ich wollte dich zu nichts drängen. Hätte ich es gewusst, dann hätte ich dich auch nie sowas gefragt. Tut mir echt leid. Ich meine, wenn ich überhaupt mit meiner Vermutung richtig liege."

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, sobald ich ihn das nächste Mal sehen würde, würde er einen fiesen Spruch bringen, weil ich sein Ego verletzt hatte oder sowas in der Art. Ich hätte niemals erwartet, dass er der Wahrheit so nah kommen würde.

,,Du musst nicht darüber sprechen. Ich weiß, wir kennen uns gar nicht. Aus Erfahrung weiß ich aber, dass es manchmal helfen kann, sich einem Fremden anzuvertrauen", sagte er und lächelte mich aufmunternd an, während er sich wieder durch die Haare fuhr.

,,Danke, ich denke, ich gehe jetzt aber erstmal zum Zelt zurück", sagte ich, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst sagen sollte. Ich konnte ihm das nicht erzählen. Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das wollte, selbst, wenn mir die Worte über die Lippen kommen würden. ,,Okay, vielleicht sehen wir uns ja nochmal", meinte er und zog den Gurt der Tasche, die er dabei hatte, ein Stück weiter über seine Schulter.

Als ich zurück zum Zelt kam, schlief Ivo immer noch. Ich beschloss schonmal Brötchen zu holen. Beim Bäcker, der unweit vom Camping Platz entfernt war, begegnete ich Julia. ,,Ach hey, du bist auch schon wach. Was für ein Zufall, dass wir zeitgleich hergekommen sind", begrüßte sie mich und umarmte mich kurz. ,,Hey! Ja, Ivo schläft noch und ich musste mich beschäftigen", meinte ich und erwiderte ihr Lächeln.

,,Verständlich. Sag mal, wir wollen heute eine kleine Wanderung in Abedular Canencia machen. Lust mitzukommen?", fragte sie. Ich bin eigentlich nicht zum Urlaub machen hier, sondern auf der Flucht vor einem Frauenhändlerring, aber klar - nichts lieber als sich ein bisschen die Beine vertreten.

,,Ich würde erstmal mit Ivo sprechen", entgegnete ich zögernd. Julia nickte. ,,Ja klar, kein Stress. Ivo hat ja Isabels Nummer." Sie zwinkerte mir zu und ich zwang mich zu einem Lächeln. ,,Wir sehen uns", meinte sie und ging mit ihrer Brötchentüte wieder in Richtung des Campingplatz. Ich betrat den Laden und kaufte von Ivos Geld ein paar belegte Brötchen. Wenig später saßen wir zusammen vor dem Zelt und ich erzählte ihm von Julias Angebot, während ich die Brötchen verteilte.

,,Ich glaube, wir sollten das lieber lassen. Falls dir beim Wandern was passiert, muss ja nur ein dummer kleiner Unfall sein, haben wir wieder das Problem mit der Krankenversicherung. Ich hatte heute Morgen ehrlich gesagt eine andere Idee", begann er, nachdem ich mit meiner Erzählung geendet hatte. Ich nickte als Zeichen, dass er weitersprechen sollte. ,, Wir sollten in die Stadt gehen. Mir ist vorhin noch jemand eingefallen, der uns vielleicht helfen könnte, an Ausweise ranzukommen!", sagte er. Meine Augen leuchteten auf. ,,Auf jeden Fall", sagte ich begeistert. ,,Das heißt, ich kann mitkommen?", hakte ich sicherheitshalber nochmal nach. Er nickte und spürte, wie sich das Gefühl von Aufregung in mir breit machte. Irgendwie klang Ivo überzeugter von seiner neuen Idee, als die Male zuvor und das ließ mich Hoffnung schöpfen.

Lo Que Necesitas - Was du wirklich brauchstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt