Cole POV
"Sie ist wie vom Erdboden verschluckt", antwortete Alex während er sich durch die Haare fuhr. Inzwischen waren wir uns sicher, dass die 14-jährige Rebecca nicht freiwillig untergetaucht ist und wahrscheinlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden wurde. Allerdings war es äußerst ungewöhnlich, dass wir keinerlei Spuren hatten. Normalerweise gab es immer Hinweise, auch wenn sie noch so klein waren. Wir hatten immer einen Ansatzpunkt, von dem aus wir mit den Ermittlungen beginnen konnten. Aber dieses Mal gab es absolut nichts. Hinzu kam, dass die Eltern gegen unsere ausdrückliche Anweisung an die Öffentlichkeit gegangen waren, was uns in der aktuellen Lage mehr Schwierigkeiten als Hilfe brachte. In manchen Situationen ist es gut, die Öffentlichkeit zu informieren und auf die Hilfe der Menschen zu hoffen, aber bei einem Vermisstenfall wie diesem war das keine gute Idee. „Wie wollt ihr fortführen?", fragte ich nun Mike. Er, Alex und ich saßen zusammen in Mikes Büro. Die ganze Nacht hatten sie gemeinsam mit ein paar anderen aus Mikes Team durchgearbeitet. In den ersten Stunden eines Vermisstenfalls ist es immer besonders wichtig, und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, die vermisste Person lebendig oder überhaupt zu finden, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Die IT durchsucht noch einmal alle technischen Geräte im Haus und verfolgt alles, was Rebecca oder ihr näheres Umfeld in den letzten Tagen im Internet gemacht haben. Die Eltern sind keine Verdächtigen, sie waren beide bereits bei der Arbeit, was auch auf Videokameras festgehalten wurde. Ansonsten haben wir schon alles überprüft. Ich hoffe, dass die IT etwas findet, das uns weiterhilft", antwortete Mike. Vermisstenfälle mit Kindern und Jugendlichen waren immer schwierig, aber wenn man vollkommen im Dunkeln tappt, macht man sich noch mehr Gedanken. „Gut, dann gib mir bitte Bescheid, sobald es Neuigkeiten gibt", erwiderte ich, was Mike mit nachdenklichem Nicken zur Kenntnis nahm, bevor er fragte: „Hat mit Mila heute Nacht alles funktioniert? Ist sie ins Bett gegangen?" „Nein, im Nachhinein war es keine gute Entscheidung, sie allein zu Hause zu lassen. Als ich nach Hause kam, lag Mila total müde und mit ängstlichen Augen auf der Couch", begann ich zu erzählen. „Hat sie die Nachrichten gesehen?", fragte Alex sofort, worauf ich nickte. „Ich habe sie gestern Abend gefragt, was los sei. Man konnte ihr ansehen, dass etwas nicht stimmte, aber sie wollte mir nicht sagen, was das Problem ist. Ich habe es dann gut sein lassen, sie war total erschöpft und müde. Mila hat bei mir im Bett geschlafen, aber sie war total unruhig. Es war schon fast 2 Uhr, bis sie eingeschlafen ist. Deshalb habe ich sie heute auch nicht zur Schule geschickt und sie lieber länger schlafen lassen. Sie sitzt oben bei mir im Büro und macht dort ihre Schulaufgaben. Auf jeden Fall hat sie mir heute Morgen, nach mehrmaligem Nachfragen natürlich, erzählt, warum sie nicht ins Bett gegangen ist. Sie hat die Nachrichten gesehen. Just in Time hat der Wind die Keksdose im Esszimmer auf den Boden geweht und als sie dann nachschauen wollte, wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt schon voller Angst, hat sie sich vor ihrem eigenen Schatten erschreckt und ist zurück auf die Couch, wo sie dann die restliche Nacht lag und versuchte, wach zu bleiben. Wahrscheinlich konnte sie ihre Augen nicht mehr von dem Durchgang zum Flur abwenden", erzählte ich, während ich mir durch die Haare fuhr. „Und sie hat auch nicht angerufen, weil es ihr peinlich war und eigentlich ihrer Meinung nach nichts passiert ist?", fragte Alex schmunzelnd, was ich mit einem Nicken bestätigte. „Es ist doch klar, dass sie davon verängstigt wird. Rebecca, die ihr ziemlich ähnlich sieht, wird vermisst, und das vermischt sich dann mit ihrer eigenen Erinnerung, die automatisch hochkommt von ihrer eigenen Entführung. Es wundert mich nicht, dass sie Angst bekommt", sagte Mike. „Ja, das kann ich nachvollziehen. Ich dachte nur nicht, dass es so schlimm ist. Mir war bewusst, dass Mila immer noch Probleme und Ängste hat, wenn sie in manchen Situationen alleine ist, besonders im Dunkeln. Aber ich dachte eigentlich, dass sie zu Hause keine Probleme diesbezüglich hat. Gut, das gestern ist auch unglücklich gelaufen. Trotzdem war mir nicht bewusst, dass sie das anscheinend noch viel mehr beschäftigt, als wir dachten", antwortete ich etwas nachdenklich. „Ihr habt doch letztens erst mit ihr über Chapter gesprochen und danach einen ganz guten Eindruck gehabt, oder?", hakte Alex nach. „Ja, wir haben mit ihr gesprochen und hatten danach das Gefühl, dass sie ganz gut damit zurechtkommt. Sie versucht es manchmal zu unterdrücken und möchte es nicht zugeben, dass die Entführung doch manchmal noch präsenter ist, als sie es möchte. Wir hatten wirklich den Eindruck, dass sie ehrlich war, als sie mit uns gesprochen hat. Ich glaube eher, dass sie unterbewusst noch mehr Angst hat, als uns bewusst war, und dass das bisher einfach nicht zum Vorschein gekommen ist, da sie nachts noch nie alleine war. Vor ein paar Wochen hatte sie zwar mal einen Albtraum, als sie unten auf der Couch eingeschlafen ist, und danach eine Panikattacke, aber wir haben das eher darauf geschoben, dass sie im Schlaf alles noch verarbeitet. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass es sie unterbewusst das alles mehr beschäftigt,als wir dachten", überlegte ich laut. „Aber warum kommt das jetzt erst heraus? Es geht ihr doch in letzter Zeit schon deutlich besser und sie ist glücklicher. Sie spricht viel mehr über ihre Probleme und ist eigentlich ziemlich ehrlich", erwiderte Alex, woraufhin Mike sagte: „Es stimmt zwar, dass es ihr besser geht und sie überraschend ehrlich zu uns und auch zu sich selbst ist, aber sie ist trotzdem noch sehr verletzlich. Ich möchte nicht labil sagen, aber sie ist noch sehr empfindlich". Mike hatte Recht, doch das war uns schon lange bewusst. Alex hatte das alles einfach nicht so mitbekommen, da er in letzter Zeit viel gearbeitet hatte und kaum zu Hause war. „Mila hat große Fortschritte gemacht und sich weiterentwickelt, aber wir müssen dennoch sehr vorsichtig mit ihr sein. In letzter Zeit denkt sie sehr viel nach und kann nicht einfach mal abschalten. Sie macht sich über allerlei Dinge Gedanken und bringt sich damit selbst um den Verstand. Sie spricht viel mehr und ist uns gegenüber sehr offen und ehrlich, aber sie ist immer noch genauso unsicher und verletzlich wie zuvor. Es gibt Momente, wie zum Beispiel als sie wegen David gelogen hat, da war sie sehr selbstsicher, aber im nächsten Moment in der Küche war sie wieder total kleinlaut und verletzlich. Das bemerkt man auch sehr deutlich, wenn sie sich unwohl fühlt oder müde ist. Sie kommt immer öfter abends zu uns und ist immer noch sehr anhänglich. Das ist auch völlig in Ordnung, sie braucht das einfach, um sich zu beruhigen, aber es zeigt auch, dass obwohl sie sich in letzter Zeit positiv verändert hat, sie immer noch sehr verletzlich ist und wir auf sie aufpassen müssen. Ich denke, sie braucht einfach noch Zeit. Sie entwickelt sich zwar deutlich weiter, aber es ist auch völlig in Ordnung, wenn sie noch eine Weile unsere kleine Prinzessin bleibt. Nur das mit Chapter sollten wir noch einmal ansprechen. Wenn sie das unterbewusst doch noch so belastet, sollten wir uns überlegen, was wir dagegen tun können", sagte ich.
„Das Problem fängt doch schon damit an, dass sie sich nicht eingestehen möchte, dass das, was sie erlebt hat, eine echte Entführung war. Durch all die Filme und Serien denkt sie, dass eine Entführung auch nur dann eine Entführung ist, wenn jemand tagelang verschwunden ist. Dadurch spielt sie ihre eigene Entführung herunter, da sie ja eigentlich 'nur' für 2 Stunden verschwunden war. Sie weiß, dass es eine echte Entführung war, aber sie möchte es sich selbst nicht eingestehen und versucht es zu minimieren, da es in ihren Augen nicht schlimm genug war", gab Mike von sich und damit hatte er auch recht. Wir haben schon mehrmals mit Mila darüber gesprochen, dass sie eine echte und bedrohliche Entführung überstanden hat und das sie das nicht schön reden soll. Ihre Einstellung dazu hat sich auch schon deutlich verbessert, aber Jake, Mike und ich waren der Meinung, dass sie es immer noch zu oft kleinredet und dadurch auch ihre damit verbundenen Probleme erfolgreich beiseite schiebt. Auf der anderen Seite wollten wir auch nicht zu viel in ihr Verhalten hineininterpretieren. Es war nicht ganz so leicht, einen gesunden Mittelweg zu finden. Wir versuchten immer so gut wie möglich anhand von Milas Verhalten und Reaktionen zu erkennen, wie sie sich fühlte und wie sehr sie von einer bestimmten Situation betroffen war. Allerdings mussten wir auch aufpassen, nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Wenn ein 15-jähriges Mädchen nachts alleine zu Hause ist, eine Vermisstenmeldung über ein Mädchen, das ihr ähnlich sieht, im Tv entdeckt und dann vor einem unerwarteten Geräusch erschrickt, haben auch andere Mädchen in ihrem Alter Angst, selbst wenn sie nicht das Gleiche erlebt haben wie Mila. Daher war es nicht immer einfach, die richtigen Schlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen.
"Ich denke, wir sollten mit ihr darüber reden und abwarten, wie sich alles entwickelt", sagte ich zu Alex und Mike. Eigentlich wollte ich nicht schon wieder mit Mila über dieses Thema sprechen. Solche Gespräche rufen viele Erinnerungen wach, und sie sollte sich nicht unter Druck gesetzt fühlen, darüber sprechen zu müssen. Außerdem hat niemand Lust, ständig mit möglichen Problemen konfrontiert zu werden, und Mila hat uns schon mehrmals gesagt, dass sie nicht immer sofort über alles reden möchte. Das versuchen wir zu respektieren. Wenn wir jedoch bemerken, dass sie ein Problem hat, das sie zu ignorieren versucht, und es sie in ihrem Leben einschränkt oder belastet, dann reden wir darüber. Aber wir möchten nicht jeden Abend ankommen und sie zwingen, mit uns über ihre Probleme zu reden. Wenn sie es von sich aus möchte, kann sie es gerne tun, aber wir mischen uns nur ein, wenn wir das Gefühl haben, dass sie Hilfe braucht und es alleine nicht schafft.
Mila macht gerade große Fortschritte, auch wenn gelegentlich immer noch dumme Entscheidungen dazwischenkommen und sie sich manchmal kindisch und naiv verhält. Trotzdem sind wir sehr stolz auf sie und ihre bisherige Entwicklung. Sie ist immer noch ein Teenager, dumme und naive Entscheidungen gehören dazu, und uns war klar, dass noch weitere auf uns zukommen werden...
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Big Brothers 6
ActionDas Original und nicht eines der vielen Kopien. Lest am besten zuerst die ersten 5 Teile, bevor ihr hier beginnt. In diesem Buch geht es um Mila und wie sie versucht mit all dem, was sie in den letzten Monaten erlebt hat, klar zu kommen. Dabei bek...