Kapitel 11

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Ich wurde darauf trainiert meine Gefühle im Griff zu haben und die, die mich schwächten, nicht zuzulassen. Dreissig Jahre war ich so, wie mich meine Familie geformt hatte, aber jetzt war alles anders. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich völlig die Kontrolle über mich verloren und wusste nicht, wie ich mit meinen Gefühlen umgehen sollte.

Ich verspürte Wut. Wut auf meine Familie, weil sie mir nie gezeigt hatte, was es hiess in einer liebevollen Familie aufzuwachsen. Angst vor meinem Bruder, weil er mich ohne zu zögern an seine Männer verkaufen würde. Demütigung, weil ich die billige Hure der Streets war. Und dann war da noch absolute Leere. Seit ich denken konnte, verspürte ich eine Leere in mir, die mich ab und zu drohte zu zerfressen. Ich hatte mich immer im Griff, so dass diese Leere nichts anrichten konnte, doch heute war alles anders.

All diese Gefühle in mir drohten mich völlig zu überfordern, so dass ich, ohne es überhaupt zu merken, an den See fuhr. Ich ging nicht zu Santos' Rückzugsort, weil mir das mehr als falsch vorkam, sondern ging zu meinem. Orlando hatte mehrere Seen, einer schöner als der andere, aber meiner war Clear Lake. Hier konnte ich schon immer stundenlang sitzen und meinen Gedanken nachhängen.

Wie immer sass ich auf einem der grossen Steine und hatte meine Beine an die Brust gezogen. Dieses Mal wippte ich meinen Körper aber hin und her, während ich meine Hände auf meinen Kopf gelegt hatte. Ich versuchte mich mit dieser Bewegung irgendwie zu beruhigen, auch wenn ich wusste, dass es überhaupt nichts nützte.

Die Menschen, die hinten auf dem kleinen Gehweg an mir vorbei liefen, ignorierte ich gekonnt, bis mir eine Frauenstimme auffiel. „Was ist mit ihr?“ offensichtlich war sie nicht alleine, aber ihre Begleitung schien ihr wohl keine Antwort zu geben. „Ich gehe sicher nicht weiter. Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht.“ zitternd fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und legte sie schliesslich in meinen Nacken.

„Miss, geht es Ihnen gut?“ tief durchatmend schloss ich meine Augen und versuchte meine Umgebung auszublenden. „Brauchen Sie Hilfe?“ hörte ich die Frau wieder, aber ich gab ihr auch jetzt keine Antwort. Für einen Moment war es absolut ruhig und ich dachte, dass sie mich verstanden hatte und mich alleine liess, bis sich eine Hand auf meine Schulter legte und ich erschrocken zusammen zuckte.

Mit geweiteten Augen sah ich zur Seite, stand aber gleich auf, als ich die Begleitung der Frau erkannte. Auch er weitete seine Augen, aber nicht, weil er überrascht schien mich hier zu sehen, sondern weil ich wahrscheinlich wirklich beschissen aussah. Wen wunderte das auch? Ich hatte eine Schnittwunde an meiner Seite und mein Top war immer noch zerrissen. Man konnte sich also denken, was mit mir passiert war.

„Ich wollte gerade gehen.“ murmelte ich und ging an Ben und seiner Begleitung vorbei. „Hey, wa-“ „Nicht anfassen.“ noch während ich Ben meinen Arm entzog, drehte ich mich zu ihm um und wich gleichzeitig etwas nach hinten. Leider hatte ich vergessen, dass auch der Stein einmal ein Ende hatte und so flog ich gleich rückwärts in den See.

Die Kälte, die mich innerhalb einer Sekunde umschloss, war kaum auszuhalten und drohte mir den Atem zu rauben. Trotzdem fühlte ich mich gerade so wohl wie schon lange nicht mehr. Es war so, als ob alles um mich herum für eine Sekunde verschwand, als würde die Welt für einen kurzen Moment stillstehen. Da war nur ich, das Wasser und die Kälte. Sonst gar nichts.

Schneller als mir lieb war, wurde ich aus dieser sicheren Umgebung gerissen, als mich jemand am Arm packte und an die Wasseroberfläche zog. Das erste was mein Körper tat, war tief Luft zu holen, während mich Ben zum Ufer brachte. „Der Name passt wirklich zu dir.“ schwach lächelnd sah er mich an, drehte mir aber gleich den Rücken zu. „Ich bin nicht verrückt.“ murmelte ich zitternd. „Das ist ein nett gemeintes Verrückte, habe ich dir schon einmal gesagt.“ und ich glaubte ihm immer noch nicht.

Morgan - Rache und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt