Chapter 38

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- Felix -

Ich trat die hölzerne Treppe nach unten um ins Wohnzimmer zu kommen. Mein Großvater saß auf dem alten Sessel, den meine Großmutter vor Jahrzenten auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Er schaute aus dem Fenster, auf seinem Schoß lag eine Ausgabe von Jane Austens Roman Stolz und Vorurteil, dessen Seiten nach den ganzen Jahren schon vergilbt waren. Großmutter liebte dieses Buch und wahrscheinlich hielt mein Großvater es genau deshalb in den Händen.

Selbst die Musik, die leise aus dem Schallplattenspieler an der Wand erklang, war die Liebste von ihr. "Hey." flüsterte ich und ließ meine Stimme leise mit der Musik zu meinem Großvater kommen. Er drehte sich vom Fenster weg und lächelte mich an. Seine Augen erreichte das Lächeln nicht.

"Yongbok, mein Liebling. Warum bist du so früh wach?" fragte er und legte das Buch auf die Fensterbank, um sich mir entgegen zu drehen. Ich ließ mich auf das Sofa neben ihm nieder.

"Ich kann nicht schlafen." gab ich zu und konnte meinen Blick nicht von dem Buch nehmen, dass im sanften Morgenlicht leuchtete. Post-its und Zettel ragten aus den Seiten raus und machten aus dem Klassiker etwas individuelles, etwas eigenes.

"Ich auch nicht." sagte er. Seine Stimme hatte mit den Jahren an Farbe verloren, aber seit Omas tot, wirkte sie gänzlich Farblos. Wie raues Papier.

"Es ist komisch ohne sie." sagte ich und jedes Wort meinte ich so. Mir fehlte ihr Lachen - so laut und herrlich, dass man es manchmal durch die Wände hören konnte - oder ihre Umarmungen, wenn man sich einfach an sie Kuscheln, ihren Geruch einatmen und die Welt ausschalten konnte.

"Leer." sagte mein Großvater. "In dem Haus und in meinem Herzen."

Ich kämpfte gegen Tränen an, die an die Oberfläche wollten und schaffte es nun weder zu dem Buch, noch zu meinem Großvater zu blicken. Also schaute ich auf meine Hände, weil mich selbst der gemusterte Teppich an meine Großmutter erinnerte.

"Yongbok." Mein Großvater durchbrach die Stille, die sich wie ein schwerer Umhang um uns gelegt hatte. Ich schaute wieder auf, mehr aus Reflex, als das ich wirklich bereit für den Anblick des Schmerzes war, der in dem Mann vor mir eingezogen war.

Er schaute aus dem Fenster, raus in den Garten, den meine Mutter nun neben der Arbeit versuchte zu pflegen. "Ich habe mir immer gewünscht, dass Lina und du irgendwann jemanden finden, der euch glücklich machen wird. Ich erinnere mich noch an eine Situation in der Küche in Seoul, in der ich deine Klassenkameradin als perfekte Freundin bezeichnete - da hattest du dich noch nicht geoutet - und deine Oma schlug mir gegen den Arm und sagte, dass ich aufhören soll so Alt zu denken. Weißt du woran sie gedacht hat?"

Er schaute mich nicht an, trotzdem schüttelte ich den Kopf. "Changbin." sagte er. "Sie meinte, dass du in Changbin verliebt bist und ich hatte mich Tagelang in die Bibliothek zurückgezogen und mich mit Homosexualität auseinandergesetzt, weil ich mich dumm und unsensibel gefühlt hatte."

Ich schloss krampfhaft meine Augen, als ich spürte wie die Tränen herausströmten, wie bei einem Tsunami der sich durch ein Riss im Fenster in ganze Häuser beförderte. Ein kleines Schlurzen verließ meine Lippen, gedämpft durch meine Ärmel, die ich mir vor das Gesicht hielt.

"Es ist immer noch Changbin, richtig?" Die Frage klang nicht wie eine. Eher wie eine Feststellung, der sich jeder auf dieser Welt bewusst war. Ich sackte nach vorne, zitternd bewegte ich meine Lippen: "Es ist nie jemand anderes gewesen."

Und vielleicht war Changbin das, was meine Großmutter für meinen Großvater war. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, einen Weg ohne ihn zu gehen. Seine letzten Worte geisterten in meinem Kopf rum. Mach's gut.

Sie Rissen alles aus meiner Brust, nahmen ein Stück meiner Seele und schmissen es zu dem alten Felix und dem alten Changbin, die bei einer Wegzweigung zurück geblieben waren. Vielleicht war das zwischen uns Toxisch. Ein Spiel mit Gefühlen und dem Herzen. Vielleicht waren wir nicht für einander gemacht, waren nie das Puzzle, das ich dachte zu sein und sollten wirklich getrennte Wege gehen. Aber egal wie oft ich darüber nachdachte, ohne Changbin weitermachen zu können, ich fand mich weinend in meinem Bett wieder.

"Yongbok, das Leben ist nicht schön. Es hat schöne Momente, aber meistens erinnern wir uns an Leid und Trauer. Wenn ich an meine Frau denke, spüre ich nichts davon, nur die unendliche Liebe die wir füreinander haben - auch jetzt noch, obwohl wir an zwei ganz unterschiedlichen Orten sind. Ich bin mir sicher, dass Changbin dir dein Leid und deine Trauer nehmen kann, du musst nur den Mut haben. Und Mut zu haben, ist mit das schwierigste. Aber warte nicht zu lang, irgendwann kann alles zu Spät sein. Selbst das Sonnenlicht."

Zwei Arten vom Trauer machten sich in mir breit: die eine Seite, die meine Großmutter so sehr vermisste, dass ich fast daran zerbrach und die andere Seite, die Changbin wieder haben wollte. Alles an ihm - das Gute und das Schlechte.

"Willst du mir sagen, dass ich zurück nach Seoul soll?" Vorsichtig sagte ich diese Worte, um mich nicht an ihnen zu verschlucken.

"Ich will dir sagen, dass es sich für nichts auf der Welt so zu kämpfen lohnt, wie für die Liebe. So bist du entstanden."

-

Mein ganzes Zimmer war ein Chaos, aber mein Kopf war ruhig. Ich tigerte durch mein altes Schlafzimmer und schmiss achtlos die Sachen in meinen Koffer. "Schatz, möchtest du nicht noch etwas länger bleiben?" Meine Mutter stand in der Tür und betrachtete mich aus flehenden Augen.

Ich schüttelte den Kopf: "Ich muss zurück." Ich hatte ihr noch zwei Wochen in Australien versprochen, schaffte es aber keinen Tag länger hier zu sein. Wenn ich Changbin jetzt verlor, verlor ich mich selbst. "Ich verstehe, dass die Situation in Seoul gerade schwierig ist, aber wir sehen uns so selten." fing sie an und auch wenn sie recht hatte, konnte ich nicht länger auf einem anderen Kontinent sein, als die Person die ich aus vollsten Herzen liebe.

"Es ist ja nicht so, dass ich nicht mehr wieder komme." sagte ich und anstatt in ihr flehendes Gesicht zu schauen, schmiss ich meine Socken in den Koffer. "Ja, aber wann? Semesterferien hat man nicht ewiglich. Irgendwann arbeitest du und dann möchtest du den Urlaub sicherlich nicht hier verbringen, sondern dort wo man wirklich abschalten kann."

Meiner Mutter zu sagen, dass ich genau deswegen hierher gekommen war, würde wahrscheinlich Themen aufgreifen, die ich gar nicht führen wollte. "Du bist meine Mutter. Nichts ist erholsamer als dein Essen." Jetzt lächelte ich sie doch an und auch wenn es ihre Augen nicht erreichte, lächelte sie zurück. "Mein Vater hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt, richtig? Dieser alte Romantiker." Sie schnaubte, schien aber nicht wirklich sauer zu sein.

"Ich verspreche dir, Mama. Ich komme bald zurück." Als ich auf sie zuging, um sie zu Umarmen, riss sie mich näher an sich. Inzwischen war ich großer als sie und legte meinen Kopf auf ihren ab.

"Dann aber mit Changbin." flüsterte sie gegen meinen Hals. "Ich versuche mein bestes." sagte ich und drückte sie nun ebenfalls fester an mich.

Meine Mutter, Lina, mein Großvater und das Haus voller Erinnerungen an meine Großmutter, waren genug Mut, den ich mir schnappte und nach Seoul mitzunehmen versuchte.

GLOW // Changlix ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt