Teil 44

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Alex

"Frau Schwemmer, ich bitte Sie! Thalia ist traumatisiert und hat selbst den Wunsch geäußert, sich bei uns aufhalten zu dürfen!", die Internatsleiterin würde mir am liebsten ins Gesicht springen, das sieht man ihr auf hundert Kilometer an.
Jack und ich haben uns mächtig ins Zeug gelegt und mit so vielen Argumentationen um uns geworfen, wie es nur möglich war.
Jack hat ebenfalls die Auswirkung eines nicht behandelten Traumatas geschildert und gleich die schlimmste Version davon auf den Tisch geknallt.
Vor uns sitzt allerdings ein sehr harter Brocken, der sich scheinbar mit rein gar nichts erweichen lassen will.
"Wie stellen Sie sich das denn vor? Sie kennen dieses Mädchen doch überhaupt nicht! Wie kommen Sie überhaupt auf solch eine Idee, ein fremdes Kind bei sich einquartieren zu wollen?", keift mir Frau Schwemmer entgegen, was mir ziemlich viel Beherrschung abverlangt, da ich sie am liebsten erwürgen würde.
"Ganz einfach. Sie bleibt vorübergehend bei uns in der WG. Dort bekommt sie ein Zimmer für sich. Entweder bringe ich oder einer meiner zwei Mitbewohner Thalia morgens zum Unterricht. Anschließend wird sie wieder abgeholt und kann mittags mit dem Herrn hier eine Therapiesitzung abhalten!", mein Finger deutet auf Jack, der unterstützend mit dem Kopf nickt.
"Also, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass zwei wildfremde Männer eines unser Mädchen bei sich aufnehmen wollen!"
"Es ist doch nicht für immer, nur vorübergehend. Ausserdem hatten wir schon mehrmals das Vergnügen miteinander und es hat nicht den Anschein gemacht, als wenn sie Angst vor mir hätte! Thalia braucht Ruhe, Stabilität und medizinische Überwachung. Das wird bei uns zuhause gewährleistet. Meine Mitbewohner sind ebenfalls im medizinischen Bereich tätig und deshalb kann ihr rund um die Uhr geholfen werden. Hören Sie: Wenn Sie Thalia jetzt zwingen wieder hierher zu kommen, obwohl sie das nicht möchte, dann wird sie wieder flüchten und wer weiß, ob sie sich dieses Mal wieder so einfach finden lässt!", ich versuche wirklich jedes Register zu ziehen und hoffe, das ich mit irgendeiner Argumentation Punkten kann.

Jack mischt sich nun auch wieder mit ein:
"Haben Sie in Ihrem Leben schon einmal einen geliebten Menschen verloren?"
"Nein, Gott sei Dank!", winkt Frau Schwemmer ab und wartet auf weitere Worte des Psychologen.
"Das freut mich für Sie! Versuchen Sie, sich trotzdem in Thalias Lage zu versetzen. Ihr Lebensinhalt bestand weitestgehend nur aus diesem Jungen. Er war ihre Konstante im Leben und hat ihr Mut gegeben, jeden Tag weiterzumachen. Dieser Mensch ist nun leider von heute auf morgen aus ihrem Leben verschwunden. Das Mädchen sieht keinen Sinn mehr und mauert sich ein. Sie läuft Gefahr, sich komplett aufzugeben. Durch eine schnell eintretende Therapie möchte ich dagegen wirken und Thalia helfen, wieder Sinn in ihrem Leben zu finden und die geschehenen Ereignisse besser verarbeiten zu können. Wenn diese Gefühle aufgewühlt werden und wir bildlich gesprochen bis in die Tiefe graben, kostet das sehr viel Kraft. Kraft, die kaum vorhanden ist und das Mädchen auslaugen wird. Können sie eine mehrstündige Überwachung nach einer Sitzung gewährleisten, wenn Thalia hier im Internat ist?"
"Mit welchem Personal denn? Wir sind eh schon unterbesetzt!", giftet die ältere Frau uns entgegen und genau das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass wir rein theoretisch gewonnen haben. 
"Wenn Sie das nicht gewährleisten können, stellt das ein enormes Problem dar. Die Nachbetreuung ist mindestens genauso wichtig wie die Therapie selbst, denn....", Jack kommt gar nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn die Internatsleiterin unterbricht ihn sofort:
"Ist schon gut, ich habe verstanden!", stöhnt Frau Schwemmer genervt auf und  tippelt mit ihren Fingern auf der Schreibtischplatte herum, da sie zu überlegen scheint.

Jack stört es nicht im geringsten, dass die Frau ihm gegenüber total genervt ist und schneidet schon das nächste Thema an:
"Wir können uns auch gerne persönlich mit den Erziehungsberechtigten in Verbindung setzen, wenn sie wünschen. Die qualitative Wiedergabe der therapeutischen Maßnahmen ist meines Erachtens..."
"Sparen Sie sich Ihre Luft. Die Eltern haben mir eine Entscheidungsvollmacht übertragen. Das sind Geschäftsleute durch und durch. Manchmal frage ich mich, wieso solche Leute Kinder in die Welt setzen... Naja... Wie lange wird das alles dauern?"
"Nun, es ist nicht vorhersehbar, wie sich alles entwickelt. Wir wissen nicht, welche Faktoren sonst noch auf die Psyche einwirken und darum lässt sich auch kein genaues Zeitfenster festlegen!" 
"Wenn das Gröbste geschafft ist, kann Thalia doch wieder hierher kommen und sich mittags zu den Therapiesitzungen zu ihnen begeben, oder?"
"Sicherlich. Wenn eine gewisse Stabilität des psychischen Zustandes besteht, können wir gerne nach Ihren Wünschen verfahren. Herr Hetkamp wird Thalia dann zu den Sitzungen abholen und sie begleiten. Meine Praxis befindet sich nicht in Köln, ich bin nur die nächsten zwei Wochen hier anwesend. Somit wäre eine fortführende Behandlung aber trotzdem gewährleistet. Es freut mich, dass sie so entgegenkommend sind und uns bei den erforderlichen Maßnahmen unterstützen!"

Wenn deine Welt ihre Farben verliertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt