London

68 2 0
                                    

Die Sonne stand schon im Zenith, als wir die letzten Felder hinter uns ließen und den Londoner Vororten immer näher kamen. „Wir erreichen gleich Greenwich, von hier wird die ganze Welt vermessen, wusstest du das? Du befindest dich also am Nullpunkt unserer Erde." Interessiert horchte ich seinen Worten. Die ersten Häuser wirkten klein, aber ordentlich und neu. Ich konnte mir gut vorstellen, dass hier die obere Schicht der Arbeiterklasse lebte. Im Hintergrund erhoben sich die hohen Backsteinhäuser Londons.

Wir ließen unsere Pferde ein wenig langsamer laufen, damit ich Zeit hatte alles zu betrachten, Luke trappte im Gleichschritt rechts neben mir her. Thetis war tatsächlich eine anspruchsvolle Stute. Sie blieb immer wieder ruckartig stehen, bäumte sich sogar zwei,drei Male auf als ein ihr unbekanntes Geräusch ertönte. Doch Luke schlug sich tapfer, er strahlte selbst in den hektischen Momenten eine Ruhe und Sicherheit aus, wodurch er das Pferd sofort wieder in den Griff bekam.

Erst vorhin hatte ich bemerkt, dass ich an jenem Abend nie nach London geritten war. Ich hatte es lediglich bis nach Rochester geschafft, doch die Stadt wirkte im Gegensatz zu meiner Heimat so mächtig und befüllt, dass ich wohl annehmen musste, mich in London zu befinden. Hier war wohl jede Gemeinde größer, enger und lauter als die nördlichen Städte bei uns. Ob die alte Frau damals trotzdem von Jack The Ripper gesprochen hatte? Hatte sich die Angst bis in die Vororte gezogen? „Hat der Mörder deines momentanen Falles auch in Rochester zugeschlagen?" Luke zog sichtlich überrascht seine Augenbrauen zusammen: „Nein nur in der Londoner Innenstadt, wie kommst du darauf?" Verlegen richtete ich meinen Blick weg von Luke: „Ich bin an dem Abend, damals, womöglich doch nicht nach London geritten. Ich habe etwa eine halbe Stunde gebraucht, das muss Rochester gewesen sein." Mein Mann lachte laut auf: „Rochester? Das ist doch nicht einmal eine richtige Stadt - wie konntest du es mit London verwechseln?" Meine Backen fingen an vor Verlegenheit zu glühen: „Lach nicht! Ich war nur einmal außerhalb von Blackburn, ich hätte ja nicht ahnen können, dass Rochester schon so viel größer ist als meine Heimatstadt!" Luke lenkte sein Pferd näher an meins: „Stadt würde ich Blackburn jetzt auch nicht gerade nennen. Wo warst du denn außerhalb?" Ich erinnerte mich gerne an die Reise von vor fünf Jahren: „In Frankreich, Avignon, dort lebt meine Schwester mit ihrem Ehemann." Damals war alles noch harmonisch. Ich hatte beinahe ein gutes Verhältnis zu meinem Vater, dem Geschuldet, dass ich noch sein braves kleines Mädchen war und nicht einmal einen einzigen Gedanken an Männer verschwendete. „Avignon ist wunderschön. Die Provence ist im Allgemeinen unglaublich. Die Weingüter, Berge und weiten Felder findet man wohl sonst nirgends auf dieser Welt." Überrascht schaute ich meinen Ehepartner an: „Du warst schon einmal dort? Weshalb? Hast du auch Verwandtschaft in Frankreich?" Luke schüttelte den Kopf: „Nein, Nein. Ich habe Verwandte in Amerika und England. Die Vorfahren meiner Mutter sind Deutsche. Aber ich habe vor einigen Jahren eine Rundreise in Frankreich gemacht. Lyon, Bordeaux, Chartres, Saint-Michael, Avignon, alles wunderschöne Orte. Wieso warst du so selten außerhalb deiner Heimat?" Ich zuckte mit den Schultern: „Mein Vater war weder interessiert am Ausland noch am Reisen. Wir haben unsere andere Schwester deshalb nie besucht, Ungarn war zu weit und uninteressant für ihn. Der einzige Grund warum sich mein Vater von seinem Anwesen entfernt, ist sein Beruf. Wir waren auch nur in Avignon, weil er eine gute Chance auf ein Geschäft witterte." Auf den Straßen tummelte sich langsam immer mehr Leben, wir mussten London schon ganz nahe sein. „Das ist Schade." Beendete Luke das Thema: „Die Welt außerhalb Englands ist so schön. Erinnerungen haben doch einen weit höheren Wert als Geschäfte und Geld."

Wir ritten noch eine halbe Stunde weiter, bis Luke die Pferde zum Anhalten brachte: „Wilkommen in London." Er stieg geschickt ab, bedeutete mir jedoch noch sitzen zu bleiben und führte die Pferde in eine kleinere Seitengasse. Dort blieb er vor einem, zwischen zwei Wohnhäusern gequetschtem, Stall stehen. „Hey Steven!" Ein etwa 14-jähriger Junge streckte seinen Kopf aus dem geschlossenen Teil des Stalles: „Luke? Ich komm gleich!" Keine Minute später stand der schlaksige Junge schon neben uns, eilig führte er mein Pferd zu einem kleinen Vorsprung, bei dem ich ohne viel Aufwand absteigen konnte. Schon spürte ich vertraute Hände an meiner Taille, die mich behutsam von dem etwa ein Meter hohen Plateau herab hoben. Verlegen klopfte ich mein Kleid sauber: „Das hätte schon alleine geschafft - aber vielen Dank." Luke gab mir als Antwort einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Der Junge vor uns führte unsere Pferde in das Innere des Stalls und band sie ruhig an einem Pfahl fest, Kaikos schien ihn schon zu kennen.

Der Junge kam zurück zu uns und streckte mir seine Hand entgegen: „Hallo! Ich bin Steven!" Schmunzelt drückte ich sie: „Und ich bin Avery, schön dich kennenzulernen." „Wer bist du?", fragte der junge Mann ungewöhnlich direkt. „Dieses wunderschöne Mädchen ist meine Ehefrau.", übernahm Luke: „Du wirst sie ab jetzt wahrscheinlich öfters sehen, Avery ist ganz verrückt nach der Stadt." Steven grinste schelmisch: „Sie müssen dann aber auch immer zu mir mit Ihren Pferden kommen, Ma'am! Ich bin der beste Stallbursche der Stadt! Ich gebe Ihnen mein Wort gut auf ihre Tiere aufzupassen!" Ich nickte lächelnd zurück: „Natürlich - Abgemacht!"

Luke erwähnte gegenüber dem Jungen, dass wir in ein paar Stunden, kurz vor der Dunkelheit, wieder kommen würden und führte mich zu der linken Seite aus der Gasse heraus: „Steven will Arzt werden. Ich gebe ihm immer etwas mehr als er verlangt, der Junge spart um einmal in Oxford studieren zu können." Wie nett. Man konnte nur hoffen, dass seine Eltern ihm das Geld am Ende des Tages nicht abknöpften. Mein Mann nahm meine Hand in seine und führte mich durch einige der Nebengassen, bis wir auf einer gewaltigen, lang gezogenen Verkehrsstraße landeten. Er hob seine Hände in die Luft und deutete um sich herum: „Das hier ist die Oxford-Street." Überwältigt von der Menge an Menschen, Kutschen und Geschäften blieb ich einen Augenblick stehen und schaute ungläubig um mich herum. „Hier müssen so viele Menschen sein wie in ganz Blackburn! Das ist unglaublich!" Luke lachte auf und witzelte darüber wie süß und naiv ich doch als ‚Landei' sei, doch ich konnte ihm nichts entgegen bringen, denn genau so fühlte ich mich.

Wir wanderten durch die Straße, vorbei an Hutgeschäften, Friseursalons und Damenbekleidung, sogar Schreinereien und Tierhandlungen befanden sich hier Mitten in der Stadt. Ich redete kein Wort, gehindert durch die Angst, aus Unachtsamkeit ein Detail dieser wunderschönen Straße zu verpassen. Luke zog mich sanft an der Hand hinter sich her und bereitete uns einen Weg durch die Menschenmasse. Er blieb vor einer kleinen Konditorei stehen, winzig kleine Küchlein in allen Formen und Farben säumten ihre Ladenflächen: „Das ist Elizabeths' Sweets", sie machen die besten Süßspeisen Londons! Willst du etwas?" Ich nickte gierig, ich hatte meinen Blick längst schon auf die kleinen Schokotörtchen gerichtet: „Etwas mit Schokolade und Kokos bitte!"

Der Schokoladenkuchen mit einem leichten Kokos-Creme-Kern schmeckte unglaublich! Ich hätte mir direkt einen zweiten geordert, wenn Luke nicht schon eine mehr als ausreichende Auswahl für daheim bestellt hatte: „Wieso nehmen wir den Kuchen nicht gleich mit? Holst du ihn wann anders ab?" Amüsiert küsste mein Mann meine Hand: „Ich bin hier Stammkunde, du kannst etwas bestellen und eine Abteil der Post bringt dir es für einen Aufpreis heim. So müssen wir nichts tragen und die Süßspeisen kommen frisch und unversehrt bei uns an." Meine Überraschung zeigte sich als ich ihm lauschte, bei uns mussten die Bediensteten Bestellungen abholen, vor die Tür geliefert wurde in Blackburn höchstens große Möbelstücke oder wertvolle Kunst.

Verliebt schaute ich die alten Dächer der Stadt an: „London ist unglaublich!"

KittenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt