Avery
Ich betrachtete mich mit einem breiten Grinsen in dem Spiegel der kleinen Boutique. Das Kleid passte wie angegossen. Die Schneiderin neben mir war wohl der gleichen Meinung, denn sie klatsche vor Begeisterung in ihre Hände: „Als hätte ich es nur für Sie gemacht. Wunderbar! Ganz wunderbar!"
Ich drehte mich einmal im Kreis und blieb schließlich zu Matthes gewandt stehen: „Und? Ist das eine angemessene Garderobe für Freitag?"
Er kratzte sich verlegen am Kopf und zuckte mit den Schultern: „Da bin ich wohl nicht der richtige Ansprechpartner. Aber es steht Ihnen ganz ausgezeichnet!" Meine Begeisterung wurde etwas gelindert. In solchen Momenten wünschte ich mir eine meiner Schwestern hierher, oder eine andere meiner wenigen Freundinnen.Bummeln mit Matthes machte Spaß, er war eine gute Gesellschaft- doch ich sehnte mich nach Mädchengesprächen und einer guten Beratung in Stoff und Stil.
Argwöhnisch musterte ich mein Ebenbild, drehte mich nach links, dann nach rechts, beobachtete wie gut das dunkle Rot zu meinem Teint und den Haaren passte: „Das nehme ich. Es ist wunderschön!"
Ich verschwand gemeinsam mit der Schneiderin in der kleinen Kabine, sie öffnete die Schnürbindung und reichte mir mein altes Wollkleid: "Was ist der Anlass für ein solch schickes Erscheinungsbild? -Falls ich fragen darf." Ich nickte lächelnd: "Einige Kollegen und Geschäftspartner meines Mannes besuchen uns am Freitag. Es ist das erste Mal, dass ich sie kennenlerne." Die kleine Frau mit dem festen Körperbau kicherte vor sich her: "Höre ich da einen Anflug von Unsicherheit in Ihrer Stimme? Sie haben keinen einzigen Grund nervös zu sein, Schätzchen- in diesem Kleid, werden sie alle verzaubern!"
Ich bedankte mich für die lieben Worte,
was für eine nette Frau.Wir tauschten Check gegen Adresse, Matthes wartete bereits auf dem Gehsteig vor der Boutique. Ich schloss zu ihm auf und grinste: "Wohin jetzt? Ich würde gerne Blumen kaufen?"
Matthes nickte ruhig und deutete auf ein Geschäft, dass sich 200 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite befand: Millies'BlossomsWir wechselten hinüber, als mir zwei Männer in dunkler Kleidung auffielen, die an der nächsten Hauswand lehnten und rauchten. Ich könnte schwören, dass ich eben diese Herrschaften schon bei unserem Ausflug nach London gesehen hatte.
Im ersten Moment hielt ich es für einen lustigen Zufall, bis mir die Mütze mit dem Emblem in das Auge stach.Ein Deja-vu zuckte durch meinen Kopf. Es war mir als hätte ich die ganze Szene schon einmal in Blackburn erlebt.
Ich schob meine Paranoia beiseite und betrat den Blumenladen. Die Baskenmütze existierte bestimmt nicht nur einmal, wahrscheinlich waren es nicht einmal die selben Männer und ich bildete es mir schlichtweg ein.
Eine Frau stand hinter der Theke des Geschäfts und steckte penibel genau einen großen Strauß mit gelben Stauden, orangen Gerberas und blauen Kornblumen zusammen. Durch die helle Türglocke blieben wir nicht unbemerkt, sie schaute zu uns auf, lächelte und bat um einen Moment unserer Geduld. Matthes und ich näherten uns der Theke und ich konnte nicht anders als das orange-rote Haar meines Gegenübers zu betrachten. Es loderte im Schattenspiel des Fensters wie eine Flamme.
Sie steckte die letzten Zierblätter an die Seiten des Blumenstraußes, fixierte das Kunstwerk anhand einer Schnur und stellte ihn in die bereitstehende Vase auf ihrer linken Seite. Anschließend klopfte die Frau ihre Hände ab und betrachtete nun uns. Ihre Augen waren eisblau, ein kühler Blick, der durch ihr Lächeln sanfter wurde, durchbohrte einen bis auf die Seele:
„Wie kann ich helfen?"
Ihre Stimme war angenehm, sie sprach nur leise, dabei jedoch klar und deutlich. Ich konnte meine Augen kaum von ihrem Gesicht abwenden, zu fasziniert war ich von ihrem gesamten Erscheinungsbild.
„Ich würde gerne Blumen für Freitag Vormittag bestellen.", ich lächelte zaghaft.
Sie musterte mich interessiert und schnappte sich in einer schnellen Bewegung einen Zettel und einen Stift: "Welche Vorstellungen haben Sie?"
Ich dachte augenblicklich an mein neu erworbenes Kleid. "Weinrot oder Bordeaux, vielleicht mit schwarzen Akzenten? Lilien oder Callas? Kornblumen und Rosen?" Die Dame nickte: "Soll es nur ein Strauß werden oder ein Gedeck?" . "Gerne eine Tischdekoration für eine Tafel an der etwa 25 Menschen Platz finden und zusätzliche acht Sträuche."
Sie notierte sich die Details und nickte: "Gut, das bekomme ich weitestgehend hin. Ich würde vorschlagen, dass ich alle Vorbereitungen bei Ihnen Vorort treffe, wäre das in Ordnung?" Mein Blick schweifte zu ihrem Namensschild: "Ja das klingt perfekt, Mrs. Fraser. Wir erwarten unsere Gäste ab neunzehn Uhr, es wäre also gut wenn spätestens drei, vier Stunden im Voraus alles erledigt wäre."
Sie bestätigte meine Anfrage mit einem erneuten Nicken und erkundigte sich nach meiner Adresse, die ich ihr zusammen mit einer Anzahlung dankend überreichte. Mrs. Fraser, die eine eigenartige Aura ausstrahlte, präsentierte sich kühl und distanziert, trotz ihrer freundlichen und offenen Art.
Während Matthes und ich uns zum Gehen wandten, bemerkte ich im Augenwinkel zwei Gestalten. Mein Blick haftete an ihnen, den Männern, die ich bereits auf der anderen Straßenseite gesehen hatte. Einer von ihnen streckte den Kopf vor, um nach mir Ausschau zu halten, und unsere Blicke trafen sich, was mir einen Schauer über den Rücken jagte.
Verfolgten sie mich wirklich?
Handelte es sich um dieselben Personen wie in Blackburn und London?Schnell wandte ich mich wieder der Verkäuferin zu und zwang mich zu einem Lächeln. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: "Gibt es hier einen zweiten Ausgang?" Matthes blickte verwirrt, während er meine Absicht nicht verstand. Mrs. Fraser hingegen fixierte die Glasscheibe hinter mir und begriff sofort.
Ein leichtes Nicken begleitete ihre kaum merkliche Geste, die auf eine der drei Türen hinter der Theke deutete. Mit einer scheinbar ungetrübten Miene spielte sie mein Spiel mit, umrundete den Tresen und nahm mich lächelnd in die Arme. Ihre Worte waren geflüstert: "Wenn ich die Eingangstür öffne, nutzen Sie die Ablenkung und verschwinden." Ich erwiderte dankbar das Lächeln, während ich sie beobachtete, wie sie ihre graziöse Schritte in die Richtung des Ausgangs setzte.
Das Ertönen der Glocke markierte unser Kommando. Ich griff nach Matthes' Ärmel und zog ihn so schnell wie möglich nach draußen. Unverständnis zeichnete sich auf seinem Gesicht ab: "Was ist los?" Ich zog ihn durch die Gassen: "Wir werden verfolgt." Der Butler runzelte die Stirn und kratzte sich: "Sind Sie sicher?" Nervös schaute ich mich um, als ich die nächste Gasse zur Rechten wählte: "Ja, haben Sie die beiden Männer nicht bemerkt? Ich habe sie bereits in London gesehen." Er zuckte nur mit den Schultern und versuchte, Widerstand zu leisten: "Das ist bestimmt Zufall. Beruhigen Sie sich doch erst einmal!" Kopfschüttelnd ignorierte ich seine Einwände, als ich am Ende der Gasse eine Kutsche erblickte: "Es wird Zeit, nach Hause zu fahren."
Matthes wirkte ebenfalls total nervös, aber scheinbar nicht wegen den Verfolgern sondern aus irgendeinem anderen Grund: „Ms. Avery-"
Ich schüttelte hektisch den Kopf: „Nein. Das ist mir nicht geheuer." In meinen Gedanken blitzten Jacks Opfer auf, was war wenn Jack garkeine Person war sondern eine Gruppe?„Waterstreet 18 bitte", rief ich dem alten Kutscher zu. Ich zog unseren Butler forsch hinter mir in den Wagon und verriegelte die Tür. Kein Grund zur Panik. Wir wären in einer halben Stunde daheim, in Sicherheit.
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Kitten
RomanceDas neunzehnte Jahrhundert, die „gute alte Zeit" ist Averys Realität. Das Mädchen, das von einem Leben voller Freiheit und Abenteuer geträumt hatte, findet sich plötzlich in einer vermeintlichen Welt der Etikette und Konventionen wieder, als sie mit...