Jack

1.6K 30 9
                                    

"Guten Morgen Ave."

Ave - wie konnte er es wagen mich nach dem letzten Tag so zu nennen. Überhaupt meinen Namen in den Mund zu nehmen, sollte er mich doch weiter Kätzchen nennen. Ein schutzloses Tier, dass keine Möglichkeit hatte seinen Willen und seine Meinung zu offenbaren. Etwas anderes stellte ich für ihn ja schließlich sowieso nicht dar.

Müde öffnete ich meine Augen und starrte in seine Richtung: "Was soll das?" Er legte das Tablet neben mir ab: "Ich bringe dir Frühstück - können wir kurz reden?" Schnaubend schob ich das Essen wieder weg: "Über meine nächste Bestrafung oder von was redest du genau? Nein danke, passt schon!" Er spielte nervös mit einem Blatt zwischen seinen Fingern und setzte sich auf die andere Betthälfte, in sichere Entfernung: "Es tut mir Leid. Alles was ich gestern getan habe. Aber ich bin so wütend geworden als du meinen Vater ins Spiel gebracht hast - und dann auch noch erzählt hast, du wärst allein in der Stadt gewesen. Es hätte sonst etwas passieren können." Fragend hob ich meine Augenbraue: "Bitte? Stimmt zum Glück bin ich hier, in deinem Haus, sicher, werde gut behandelt und mir wird nichts angetan oder sogar mit dem Tod gedroht." Die Ironie in meinen Worten biss beinahe nach dem jetzt so stillen Mann. Lukas reichte mir die Akte: "Ich habe keine Entschuldigung für mein Verhalten, aber ich kann dir wenigstens erklären warum ich dich hierbehalten wollte, fernab von London. Das ist der Grund warum du nicht alleine gehen solltest." Ich starrte skeptisch auf die Hand, die mir die Papiere reichen wollte, doch mein Interesse siegte. Neugierig nahm ich es entgegen. Sie stammte von der Stadtpolizei - es war eine Kriminalakte.

"Jack the Ripper"

- Pseudonym für unbekannten Serienkiller,
6 bewiesene Morde

Liste der Opfer:
Elizabeth Stride,
Marry Kelly,
Catherine Eddowes
Annie Chapman
Mary Nichols
Carrie Brown

- Möglicher Zusammenhang besteht zu weiteren unbekannten Opfer, vermutliche Verbindung zu Akte 176,178,179,190-195

-Zielgruppe des Mörders:
Frauen,
Brünette,
Langhaarig,
Grünäugig,
dem Schönheitsideal entsprechend,
zwischen 17-30

Die Möglichkeit zu Raubmorden besteht, Uhren, Schmuck und Ähnliches fehlten nach Angaben der Angehörigen. Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Aussehen der Opfer und der Tat ist gegeben, die Polizei London geht von persönlichen Motiven aus.
...

Ich legte die Akte für einen Augenblick zur Seite und schaute an mir herunter. "Richtig Avery. Du hast dunkelbraune lange Haare, die strahlendsten grünen Augen die ich je in meinem Leben gesehen habe, du hast Geld, trägst gerne Ketten, Ohrringe und Armbänder und bist achtzehn. Die Stadt betreffend wollte ich dich fernhalten ja! Aber nur weil ich mir jede Sekunde, die du allein in London verbracht hättest, so welche Sorgen um dich gemacht hätte. Ich ermittele mittlerweile zusammen mit den Polizisten an diesem Fall seit einem knappen halben Jahr und die 6 Opfer sind lange nicht alle. Darauf wette ich mit allem was ich besitze."

Er warf mir einen Stapel an zusammengehefteten Fotos entgegen. Unsicher schaute ich auf sie. Oh Gott. Ein Würgen kroch meinen Hals hoch und ich hielt mir die Hand vor das Gesicht: "Tu sie weg." Er nahm sie wieder: "Siehst du was dieser Typ mit Ihnen macht?" Ich holte tief Luft: "Ja Lukas. Und es ist schrecklich, aber weißt du was es noch lange nicht rechtfertigt? Das du mich schlägst, ohrfeigst, trittst , mir mit dem Tod drohst und mich beinahe missbrauchst!" Er fuhr sich verzweifelt durch die dunklen Haare: "Ich weiß. Du kannst mich meinetwegen zurück schlagen,  oder was auch immer dir in den Sinn kommt. Mach das mit mir was dir gerecht erscheint. Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich das gestern Geschehene nicht wieder gut machen kann." Konnte man diesen Worten glauben? War die Überzeugung in seiner Stimme echt oder nur gespielt? Ich holte tief Luft: " Und trotzdem machst du mir gerade genauso viel Angst wie gestern. Du warst von einem Moment auf den anderen wieder total ruhig. Damit wirkst du auf mich komplett unberechenbar. Wie soll ich mich ab jetzt in deiner Nähe noch wohlfühlen? Ich muss doch jeden Moment mit einer weiteren Eskalation deinerseits rechnen." Seine Augen weiteten sich verletzt - diese schönen hellbraunen Augen. "Ich verspreche dir mit meinem Leben, dass es nie wieder vorkommt." Ich seufzte: "Ein Versprechen bringt mir nur leider nichts. Das ist deine letzte Chance Luke. Ich will die nächste Zeit Abstand zu dir haben. Du schläfst die Nächte im Gästezimmer und wenn ich sage fass mich nicht an, dann mein ich es auch so. Ich will keinerlei körperliche Annäherungen deinerseits haben, sonst bin ich schneller wieder in dem Haus meiner Familie als du schauen kannst."
Lukas Kieferknochen spielten - nicht wütend - eher angespannt, fast schon verunsichert: "Okay. Ich danke dir."

Nachdem er unser Schlafzimmer wieder verlassen hatte machte ich mich an mein Frühstück. Ich vermutete das unser Butler es zubereitet hatte, denn das Spiegelei auf dem Teller war zeitlich perfekt angebraten. Ganz leicht ging das Essen zwar noch nicht herunter, doch mein Magen befahl mir anhand grimmiger Geräusche zu essen. Ich  hatte überhaupt nicht bemerkt wie lange ich schon nichts mehr zu mir genommen hatte, bevor der köstliche Duft der frisch gebackenen Semmeln in meine Nase stieg. Ich hatte gestern natürlich was zu der ganzen Situation beigetragen, besonders die Aktion vor seinen Gästen war nicht in Ordnung gewesen - aber das war noch lange keine Entschuldigung mich so zu behandeln. Ich war noch immer wütend und auch jetzt lief mir noch ein Schauder über den Rücken, wenn ich an den gestrigen Tag dachte. Doch zumindest für die Sache mit der Stadt hatte er mir eine vernünftige Erklärung gegeben.

Gähnend setzte ich mich auf und streckte mich. Ich lief müde über den kalten Gang in das Hauptbad und verschloss es hinter mir. Der große Spiegel rechts von mir, brachte mich jedoch zum Stoppen. Ich trug noch immer sein Hemd. Angeekelt lies ich es fallen und begutachtete mich im Spiegel. Meine eine Wange trug einen roten Abdruck und auch die Handgelenke hatten die Spuren der Fesseln behalten. Ich hatte mehrere blaue Flecken - einen besonders großen an meinem Bauch und eine kleine Schürfwunde am Knie. Langsam hob ich meine Hand und lies sie über meinen Hals und Dekolleté gleiten. Es war komplett übersäht mit lauter roten und blauen Male. Seine Finger mussten so fest zugedrückt haben, ich hatte es in meiner Panik überhaupt nicht gemerkt.

Eine halbe Stunde später lief ich wütend im Morgenkleid die Treppen herunter. "LUKAS. Schau dir an wie ich aussehe. Schau dir gefälligst an was du getan hast!" Im Hintergrund fiel eine Tür laut in ihr Schloss, der Butler wollte wohl nichts mit der Situation zu tun haben. Luke zuckte überrascht zusammen und drehte sich an seinem Arbeitstisch verdutzt zu mir um: "Was? Ich-" Seine Lippe war noch immer aufgeplatzt und seine linke Gesichtshälfte war blau geschmückt - vermutlich von der Vase. Am Saum seines Tshirts konnte man tiefe Kratzspuren an Armen und Rücken entdecken. Wir hatten beide ein Haufen Verletzungen von gestern davongetragen. Müde drehte ich mich um: "Vergiss es." Er folgte mir und griff an meinen Arm. Geschockt zog ich ihn weg: „Finger weg!" Luke wuschelte sich verzweifelt durchs Haar: „Entschuldigung. Warte bitte kurz - ich hole etwas"

Er kam mit einem roten Koffer bepackt zurück und forderte mich auf mich zu setzen. Unsicher befolgte ich seine Anweisung und wartete auf seinen nächsten Schritt. Er kam zu mir mit Verbänden und Salben, und kniete vor mir nieder. „Darf ich?", fragte er. Ich nickte leicht. Ganz vorsichtig tupfte er über die besagte Wunde am Knie, säuberte sie und wickelte einen leichten Verband drum herum. Er kümmerte sich um jede kleinste Verletzung, schien genau zu wissen wo sie waren und ich lies alles unwohl über mich ergehen. Wie konnte ein Mensch nur binnen ein paar Stunden so verschieden sein?

Nachdem er mich zu Ende behandelt hatte, stand er auf: „So fertig, ich räum das kurz einmal weg-" Seufzend hielt ich ihn fest: "Nein warte."
Genervt über mich selber begann auch ich seine Verletzungen zu verarzten. Als ich sein Tshirt nach oben zog, um besser an die Kratzer zu kommen zuckte er kurz zusammen. Ein schmerzvoller Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit. Ich betrachtete mein Werk genauer als ich es mit Heilsalbe eincremte. Es waren viele , teils tiefe, Wunden - aber er hatte es verdient! Etwas grober als es vermutlich nötig gewiesen wäre,strich ich noch ein letztes Mal über sie: "Fertig."

Wie sollte ich nur lange auf ihn sauer bleiben? Er war heute komplett anders. Die kalte Aura um ihn hatte sich verändert, sein Blick war müde aber nicht matt wie gestern. Er spielte unruhig mit seinen Fingern und die Schuldgefühle konnte man beinahe riechen. Es schien wirklich so als wäre das vor mir ein anderer Mensch. Als hätte über Nacht irgendjemand wieder den neuen gegen den alten Luke ausgetauscht. Verzweifelt seufzte ich: „Ich verstehe dich überhaupt nicht- und das macht mir eine Heidenangst."

Er blieb für den Moment ruhig. Starrte einfach vor sich hin und blinzelte in geregelten Abständen. „Wie solltest du mich auch verstehen können, wenn ich es selbst nicht einmal kann."
Damit stand er auf und schritt mit hängenden Schultern an mir vorbei. Luke warf das Verbandszeug zurück in den Koffer und schloss ihn wieder. Sein Körper bewegte sich langsam in Richtung des Arbeitszimmers: „Danke Ave."
„Ehm - Danke auch."

KittenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt