Dämmerung

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Nachdem wir in das Claridge's für einen Nachmittagstee eingekehrt waren, verschwanden die ersten Strahlen der Sonne hinter Londons hoch gebauten Häusern. Die ganze Stadt war in ein warmes, beinah golden schimmerndes Licht getaucht. Die Spieglungen der metallischen Rohre und gläsernen Oberflächen ließen den Boden erleuchten. Ich streckte meinen linken Arm  in eine der strahlenden Stellen und beobachtete das Funkeln meines Schmucks: „Wohin gehen wir nun?" Die andere Hand war in Lukes verschränkt: „Wir sollten den Heimritt antreten. Wir brauchen schließlich eine Weile." eine missmutige Miene entwich mir: „Schon? Die Sonne beginnt doch gerade erst unterzugehen, wir könnten noch Essen gehen oder durch einen Park..."
„Nein. Das reicht für heute."
„Aber-"
„Nein Avery. Ich dulde keine Widerworte.", er bemerkte mein Schmollen unverzüglich, senkte seinen Kopf um mich zu küssen und strich sanft über meine Wange: „Dein ersten Besuch der Stadt soll dir lieber gut in Erinnerung bleiben. London zeigt sich nicht oft von seiner besten Seite. Ich habe dir ganz bewusst nur das Schöne gezeigt. Die Nebengassen sind dreckig, in der Dunkelheit kommt das Gesindel heraus... die Betrunkenen, Bettler, Verbrecher. London ist letztendlich auch nur eine Stadt der Hoffnung, die schon vielen Menschen Verzweiflung und Leid gebracht hat."
Er hatte wohl Recht. Ich musste an die Abende und Morgen Blackburns denken. Nicht selten sah man torkelnde, schlafende oder gar verletzte Gestalten in den Gassen herum irren. Viele von ihnen waren mit dem Versprechen auf industrieller Arbeit und guten Lohn in meine Heimat gekommen, doch kaum einer von jenen fand diese auch. Und obwohl Luke es nicht direkt ansprach, wusste ich, dass der Frauenmörder Londons ebenfalls durch seine Gedanken spukte.

Ich gab mich geschlagen und wurde von meinem Mann, durch die gepflasterten Straßen zurück, zu unseren Pferden geführt. Steven, der Stalljunge, saß schon zappelnd auf einem alten, brüchigen Hocker in der Gasse vor dem Stall und erwartete unser Wiederkommen. Er hüpfte erfreut auf als er uns erblickte, räumte geschwind seine Sitzgelegenheit in den Innenraum und begann Kaikos sowie Thetis von den Masten loszubinden: „Da seid ihr ja endlich! Ich habe schon auf euch gewartet, schließlich sind eure Pferde die letzten in unserem Stall! War Ihr Besuch schön, die Dame? Kommen Sie gern ab jetzt oft in die Stadt! Aber Pferde nur bei uns abgeben ja?" Der quirlige Junge redete ohne Pause, stellte Fragen, deren Antwort ihn offensichtlich überhaupt nicht interessierte. „Einmal Tages-Abgabe der Pferde macht dann pro Pferd einen halben Pfund, Mr. Turner. Wie immer!", er schien es extra laut zu äußern. Steven zwinkerte dabei verspielt und hielt Luke verstohlen beide Hände hin. Lukas kramte kurz in seiner Jackentasche, legte dem Jungen in die linke Hand den geforderten Sterling und drei weitere in seine Rechte. Der Jugendliche blickte kurz zu einer blau angestrichenen Tür hinüber, ließ den Inhalt der rechten Hand heimlich in seiner hinteren Hosentasche verschwinden und steckte den übergebliebenen Groschen brav in einen kleinen Beutel, den er fein säuberlich an seinem Gürtel befestigt hatte.

Mir blieb beinahe der Mund offen stehen. Ein großzügiges Trinkgeld war das Eine, aber gleich drei Pfund? Ich warf Luke einen skeptischen Blick zu, der sofort weicher wurde, als ich die nächsten Worte des Jungens hörte: „Jetzt sind es nur noch 499£, die ich sparen muss, danke Sir!"
Luke half mir geschwind auf Kaikos und machte sich schließlich selbst bereit für den Los-Ritt: "Solange du es für deine Zukunft benutzt musst du mir nicht danken, Steven. Wir sehen uns, lern fleißig!"

Wir entfernten uns von dem Stall, ich blickte noch einmal über meine Schulter, um sicher zu gehen, dass der Junge außerhalb unserer Hörweite war: "Drei Pfund?" Luke lachte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf: "Ein Studium in Oxford kostet etwa 600£, ich muss mein Pferd noch oft zu dem Kleinen bringen, bis er das zusammenkratzen kann." Es dauerte einen Moment bis ich realisierte was Luke gerade sagte: "Hundert und Einen Pfund??? Luke- das ist viel zu viel Geld für einen Vierzehnjährigen!"

(Kurzer Exkurs: 1£ entsprach 1890 etwa 130-150€, Das durchschnittliche Jahreseinkommen lag bei 43£)

Ungläubig über Lukes Naivität verarbeitete ich die Informationen in meinem Kopf: „Das ist doch mehr als der Durchschnitt hier in zwei Jahren verdient! Ich glaub das einfach nicht!" Seine verlegene Lustigkeit wich einer gekränkten Ernsthaftigkeit: „Na und? Es ist mein Lohn, ich schenke doch nichts her, was nicht meins ist." Ich konnte nicht anders als den Kopf zu schütteln: „Willst du ihm die anderen 500 Pfund auch noch in die Hand drücken? Bist du von allen guten Geistern verlassen?" Luke stoppte Thetis und blaffte mich mit einem zornigen Blick an: „Und wo ist dabei das Problem? Ich würde dem Jungen gerne seinen Traum ermöglichen. Was sind schon 600 Pfund in deinem oder meinem Leben? Nichts! Wir können es uns leisten, falls es das ist worüber du dir Gedanken machst!" Seine Kieferknochen krampften sich zusammen.

Dachte er es ginge mir um seine Großzügigkeit? Dass ich es dem Jungen nicht gönnte?

Wütend keifte ich zurück: „Darum geht es doch überhaupt nicht! Wie kannst du nur so naiv sein!" Ich hielt Kaikos ebenfalls an und drehte mich zu meinem Mann. Luke rümpfte die Nase: „Ich hätte von dir nicht erwartet, dass du einem Jungen von Vierzehn Jahren seinen Traum nicht vergönnst. Ich dachte du hattest in deinem bisherigen Leben so viel übrig für die Arbeiterklasse. Was unterscheidet Steven von ihm, hm?" Überrascht von seiner konkreten Anspielung, bildete sich ein fester, großer Klos in meinem Hals. Ein Krächzen entwich meiner Kehle: „Woher.." Er schnaubte beinahe verächtlich: „Glaubst du deine Mutter hat mich nicht über deine Vergangenheit unterrichtet? Über Kilian? Meinst du ich kann mir nicht zusammenreimen, wo du an unserer Hochzeit warst? Bin ich dir dafür zu naiv?"

Tränen schlichen sich ihren Weg nach oben. Schluchzend verlor ich die Kontrolle über meine Atmung. Ich blinzelte verloren durch die schwarzen Striemen, die sich von der Mascara bildeten. Das Thema des Hochzeitstages hing seit der ersten Nacht über uns, natürlich war mir das bewusst. Doch mich hier, in fremden Gassen, vor fremden Menschen so anzugehen, war alles andere als gerecht. Wütend kniff ich meine Brauen zusammen und wandte Kaikos zum weitergehen.

Ich hörte noch Lukes „Was tust du da..." , als ich energisch an Kaikos Zügeln riss um ihn zum Rennen zu veranlassen. Er sprintete wie Befohlen los, seine Hufe hinterließen schnelle und hohe Töne auf den gepflasterten Straßen der Londoner Vororte. Mein Mann kämpfte mit seiner Stute, doch er hatte keine Chance mir und dem Hengst hinterherzukommen. Es dauerte keine Minute bis sie hinter uns in der Dämmerung ganz und gar verschwunden waren. Ha! Schoß es mir durch den Kopf. Schau doch wo du bleibst, du Idiot!

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Warum Avery es wohl Steven nicht gönnt?
Habt ihr eine Idee?

Xoxo

KittenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt