Die Dämmerung von Lukes drittem freien Tag setzte ein. Wir hatten eigentlich bei unserem Besuch der Londoner Innenstadt zwei Karten für das neu präsentierte Theaterstück Les Miserables erworben. Doch aufgrund meiner gesundheitlichen Situation und der Tatsache das Jack The Ripper vorgestern Nacht, nur zwei Straßen von dem Schauspielhaus entfernt, gemordet hatte, entschieden wir uns dazu die Tickets verfallen zu lassen.
Stattdessen schwiegen wir uns nun in einer unangenehmen Stille an, während Luke und ich uns die Zeit mit Backgammon, Schach und Mühle vertrieben. Obwohl das erste Gespräch so gut gelaufen war, ging das Zweite nicht gerade gut aus. Ich war genervt und gereizt durch seine Worte, von der Tatsache, dass er meiner Familie drohte und ich die perfekte Ehefrau ohne Hirn und Verstand spielen musste.
Schach hatten wir bereits in den ersten Wochen meiner Ankunft gespielt. Luke war unglaublich gut darin, er brauchte kaum Sekunden um den nächsten Zug zu wagen. Es schien als hätte er seine Taktik vor Spielbeginn schon bis zum letzten Zug im Kopf. Doch heute war es anders. Er war nicht wirklich bei der Sache, acht von zehn Runden hatte ich gewonnen.
Seine Aufmerksamkeit galt immer wieder einer Akte, die auf der anderen Seite des Tisches fein säuberlich in einem Briefumschlag verpackt war. Er schielte zu ihr rüber, konnte es augenscheinlich kaum erwarten sie endlich zu öffnen. Ich seufzte und stieß seinen König beiseite: „Schach Matt." Genervt griff ich nach dem Spielbrett und schubste es von uns weg: „Los, mach sie schon auf." Luke wirkte verwirrt: „Was meinst du damit?" Ich deutete auf die Akte: „Ich seh dir doch an wie gerne du sie öffnen willst." Mein Mann schüttelte den Kopf: „Nein, Nein. Passt schon, ich habe dir schließlich versprochen, dass ich bis Montag nicht arbeiten werde."
Ich ahnte schon wo von der Stapel an Papieren handelte: „Es geht um die neuen Erkenntnisse zu dem Mörder oder nicht?" Luke nickte nur leicht. „Ich merke doch wie die Neugier dich auffrisst, jetzt nimm sie schon und lies. Das könnte schließlich den entscheidenden Hinweis auf diesen Bastard liefern."
„Okay."
Er griff eifrig über den Tisch und zog den braunen Umschlag zu sich. Seine Finger spielten am versiegelten Rand, rissen das raue Papier unsanft zur Seite.
Ich folgte seinen Augen, die hektisch die ersten Zeilen der Seite überflogen. Trotz meiner anhaltenden Aufgebrachtheit über Lukes Worte begab ich mich näher zu ihm und kuschelte mich so an, dass ich mitlesen konnte.
Das Autopsie-Institut Londons,
unter der Aufsicht von Doctor J.R. Walsh,
stellt hiermit einen hohen Wissenstand des Täters im Bereich der Medizin fest.
Jeder Schnitt scheint sicher gesetzt worden, der Täter schnitt scheinbar gezielt entlang von Venen, Aterien und Nervensträngen.
Das führt die zuständigen Doktoren und Ermittler zu der Erkenntnis, dass der Täter im Bereich der Menschen- oder Tiermedizin, sowie der Schlachtung arbeitet...Luke schlug die Seite um, meine Augen, die gerade noch am Text hingen fielen auf einen massakrierten Körper einer Frau. Schnell wand ich meinen Blick ab und drehte mich automatisch mehr zu der Brust meines Mannes: „Oh Gott. Mir wird schlecht."
Man erkannte kaum noch das Geschlecht, geschweige denn das Gesicht der armen Frau. Nur die dunklen Haare ließen mir die Vermutung zu, dass sie der gleichen Zielgruppe seiner letzten Taten angehörte.
Dies klang womöglich egozentrisch, doch all die Frauen hatten auf bestimmte Arten und Weisen eine solche Ähnlichkeit mit mir, dass, würde ich von hier kommen und nicht aus dem Norden, ich mir gut einbilden könnte das Jack es eigentlich auf mich abgesehen hatte. Ich wusste nicht was es genau war, doch irgendetwas an diesen grauenhaften Bildern brachte mich immer und immer wieder zurück zu dieser Überlegung. Ich musste über meine Gedanken innerlich beinahe Lachen. Für so wichtig hältst du dich Avery? Wirklich? Nur weil sie ein paar optische Ähnlichkeiten zu dir haben hat das doch nichts mit dir zu tun. Schließlich gibt es niemanden, der in London wohnt und einen solchen Groll gegen dich hegt.
Oder?
„Wer war sie?", fragte ich leise.
Luke merkte meine Aufregung und legte die Blätter für einen Moment zur Seite. Er strich durch mein Haar und verankerte die andere Hand in meiner Linken: „Er hat sie vor einer Woche getötet, ihre Person wurde an dem Tag identifiziert, an dem meine Eltern zu Besuch hier waren. Ihr Name war Nadja Murphy, sie war 19, frisch verheiratet und erwartete ein Kind.Ich schlug meine freie Hand vor meinen Mund: „Sie war schwanger? Wie grausam... der arme Vater! Kind und Frau verloren..." Luke räusperte sich: „Das ist es ja. Sie war bereits im neunten Monat, wir fanden das Kind lebend, in eine Decke gehüllt, neben ihr vor. Er muss es herausgeschnitten haben bevor er die Frau ermordet hat."
Ein ununterbindbares Kopfkino entstand in mir. Ich würgte beinahe und versuchte die bestialischen Gedanken zu verscheuchen.
„Die neuen Akten bringen mir nur leider keine aufschlussreichen Informationen. Dass Jack Kenntnisse im Bereich der Anatomie von Tieren oder Menschen hat, vermutete ich schon seit dem zweiten Opfer.
Es kann doch nicht sein, dass dieser Bastard nie einen Fehler macht. Keine Spuren hinterlässt und ihn nie jemand sieht! Da muss ein Kind zwanzig Minuten schreiend am Boden gelegen haben, während er eine Frau auf schonungsloseste Art und Weise aufgeschlitzt hat und kein einziger Zeuge meldet sich bei der Polizei? Das kann doch nicht wahr sein!"
„Luke?", unterbrach ich seinen wütenden Redeschwall. Er sah neugierig auf mich hinab, seine Finger spielten aufgeregt mit meiner Hand.
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„Glaubst du der Fall hat etwas mit mir zu tun?"
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Kaum merkbar zuckte er bei dieser Frage zusammen. Seine Augen wurden groß und er schüttelte energisch den Kopf: „Nein Avery. Mach dir bitte keine Sorgen um so etwas Irrationales."Die Art wie er es sagte ließ mich zögern ihm zu glauben. Er verbarg etwas vor mir. Er wusste mehr über die Opfer oder den Täter. Das sah ich ihm an. Meine Frage hatte ihn zu direkt getroffen. Es schien als hätte er schon darauf gewartet, dass ich sie stellte.
„Sicher?", bohrte ich nach einer kurzen Pause weiter. Luke legte die Akten nun ganz beiseite und zog mich auf seinen Schoß: „Ja."
„Aber..."
Er drehte mich zu ihm um und drückte seine Lippen forsch auf meine.
„Beschäftigen wir uns mit einem anderen Thema Avery. Genug der freien Zeit vertan."Dachte er ich merkte nicht, wie sehr er von der Thematik ablenken wollte? Als ob ich so naiv wäre. „Luke..." Er hielt mir mit einer Hand sanft den Mund zu und liebkostete meinen Hals: „Shhht." Ich wollte widersprechen, doch seine Berührungen waren so gut gesetzt, dass ich meine skeptischen Gedanken innerhalb von Sekunden vergaß. Ich seufzte schwer als seine Hand meinen Mund freigab und zu meinem Rücken glitt: „Das ist unfair, ich will wissen was..." Er küsste mich abermals, seine Hand suchte sich einen Weg durch die luftigen Schichten des Kleides.

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Kitten
RomanceDas neunzehnte Jahrhundert, die „gute alte Zeit" ist Averys Realität. Das Mädchen, das von einem Leben voller Freiheit und Abenteuer geträumt hatte, findet sich plötzlich in einer vermeintlichen Welt der Etikette und Konventionen wieder, als sie mit...