Kapitel 5

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Anna erwachte langsam aus ihrem Schlaf, sie glaubte geträumt zu haben, dass Bors gegangen war und das Kenshin hier bei ihr war. Wie albern von ihr, es gibt nichts was Bors von ihr wegbringen könnte, dies sollte sie doch wissen. Leise Stimmen drangen an ihre Ohren und gleichzeitig bemerkte sie, dass die Schmerzen nicht mehr so stark waren wie zuvor. Zwar tat ihr immer noch alles weh, aber sie würde es überleben, also öffnete sie langsam ihre Augen. Im Zimmer war es hell, dann musste es Tag sein, dachte sich Anna. Sie fühlte sich immer noch schwach, ihre Hand glitt automatisch zu ihrer verletzten Schulter.
„Sie ist wach!", hörte sie Rick sagen und dann tauchte in ihrem Blickwinkel Kenshin und Yusei auf. Yusei? Was tat er hier?
„Hey Anna wie geht es dir?", fragte Kenshin sanft und setzte sich auf der Bettkante, er schien besorgt und angespannt zu sein. Yusei hinter ihn hatte denselben Gesichtsausdruck.
„Du musst keine Angst mehr haben, du bist bei mir in Sicherheit! Bors ist weg und er wird dir nie mehr wieder wehtun können!", versicherte Kenshin ihr, als sie nicht antwortete. Es war also kein Traum gewesen. Bors war wirklich weg? War sie jetzt frei? Aber wo war Steven?
„Steven?", fragte sie mit leicht brüchiger Stimme. „Wo ist Steven?"
„Darüber wollen wir mit dir reden.", meinte Yusei bestimmend.
„Willst du das Steven für seine Taten bestraft wird?", fragte Kenshin und korrigierte sich sofort, als er ihre entsetzten Augen sah. „Ich meine, gerichtlich bestraft."
Wieso sollte sie das wollen, dachte sich Anna entsetzt.
„Nein! Auf keinen Fall! Er hat nichts getan!", erwiderte Anna ein wenig hysterisch und wollte sich aufrichten, doch Kenshin drückte sie sanft zurück ins Kissen.
„Bleib liegen Anna, du musst dich ausruhen.", meinte er ruhig.
„Wo ist Steven?", fragte sie erneut diesmal aber mit panischer Stimme. Sie brauchte ihn, er war der einzige dem sie vertrauen konnte.
„Ich bin hier Kleines."
Steven tauchte hinter Yusei auf und Anna beruhigte sich wie aus Zauberhand. Er setzte sich auf den Boden, neben dem Bett und lächelte sie schwermütig an.
„Was ist mit Rick?", fragte Kenshin weiter. „Willst du, dass er gerichtlich bestraft wird?"
Anna runzelte die Stirn, Rick hatte ihr nie was getan, im Gegenteil. Soweit sich Anna erinnern konnte hatte er einfach immer über sie gewacht und hatte Steven geholfen sie gesund zu pflegen. Ihn ins Gefängnis zu werfen, nur weil er bei Bors angestellt war und seine Arbeit getan hat, fühlte sich falsch an.
„Nein.", antwortete sie leise.
„Das wäre somit erledigt.", meinte Yusei. „Wir sollten Anna weiter ausruhen lassen."
Mit diesen Worten verliess er das Zimmer. Anna blickte kurz Kenshin an, sah aber dann Steven ängstlich an.
„Ist es wirklich vorbei?"
Sie wollte es von ihm hören, wollte dass er es bestätigte. Steven setzte sich auf die tiefe Bettkannte und streichelte liebevoll ihr Haar, lächelte leicht.
„Ja Kleines, es ist vorbei. Du bist jetzt frei.", versicherte Steven ihr leise. „Jetzt ruh dich weiter aus."
Erleichtert schloss Anna die Augen und ein Gefühl der Sicherheit breitete sich in ihr aus, wie sie es seit einem Jahr nicht mehr gespürt hatte. Eine grosse Erschöpfung überfiel sie und sie schlief in Stevens Obhut wieder ein.


Anna wachte allein in diesem fremden Zimmer auf. Langsam richtete sie sich auf und war überrascht, wie wenig Schmerzen sie noch verspürte. Vorsichtig stand sie auf und schaute sich im Zimmer um. Das niedrige Bett dominierte den Raum, da es in der Mitte stand. Es gab auch einen Schrank und einen Kosmetiktisch, an welchen man sich hinknien musste, um ihn benutzen. Auf diesem Tisch stand eine Wasserflasche und Anna holte es und trank diese leer. Dabei machte sich der Schmerz in ihrer Brust bemerkbar, doch sie ignorierte es geflissentlich. Anschliessend ging sie zum Schrank und hoffte, etwas zum Anziehen zu finden und tatsächlich wurde sie fündig. Leider bestanden die Kleider alle aus Chiffon und Seide, aber Anna nahm dennoch ein Kleid heraus. Immerhin konnte sie nicht in ihrer Unterwäsche bleiben und ausserdem sehnte sie sich nach einer erfrischenden Dusche.
Sie schaute sich weiter im Zimmer um und entdeckte zwei Schiebetüren. Hinter einer von ihnen musste sich sicherlich das Badezimmer befinden. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, hinter der sie das Bad vermutete, fiel ihr ein Koffer in der Ecke auf. Neugierig ging sie zu dem Koffer, öffnete ihn und erkannte ihre eigene Kleidung, Unterwäsche und Pflegeprodukte, die sie seit einem Jahr benutzte. Anna nahm sich frische Unterwäsche und alles, was sie im Bad noch benötigen würde, aus dem Koffer und begab sich dann zur Schiebetür.
Als sie die Tür öffnete, offenbarte sich ein wunderschönes Badezimmer, und Anna stand mit offenem Mund da. Der Boden und die Wände waren aus schwarzem Marmor, während die Decke und das Gestell, auf dem die Eierschalen-Badewanne lag, aus Bambusholz waren. Der Waschtisch ähnelte eher einem kleinen Tisch mit einer Schüssel darauf, und Anna musste sich hinknien, um ihn zu benutzen. Das Badezimmer strahlte Harmonie und innere Ruhe aus, und Anna liebte es sofort. Es gab keine Dusche, also stieg sie in die Badewanne. Trotz der Schmerzen in ihrer rechten Schulter, die sie kaum bewegen konnte, schaffte sie es mit Mühe und Not, sich zu waschen. Sie schaffte es sogar, ihre Haare zu waschen, ohne dass der Verband zu nass wurde. Anschliessend trocknete sie sich ab und entfernte den Verband. Wie vermutet war die Wunde noch mit einer Gaze bedeckt. Sie trocknete ihre Haare, zog ihre Unterwäsche an und begann, das Kleid zu inspizieren, das sie aus dem Kleiderschrank genommen hatte.
Anna benötigte einen Moment, um zu verstehen, wie sie dieses dunkelblaue Kleid anziehen sollte, da es aus sehr viel Stoff bestand. Zuerst schlüpfte sie in den Teil aus weisser Seide und befestigte ihn mit den Bändern um ihre Taille. Danach legte sie den dunkelblauen Chiffon darüber und band ihn mit einer Schleife unterhalb ihrer Brüste zusammen. Als sie fertig angezogen war, betrachtete sie sich im Spiegel. Das bodenlange Kleid hatte lange, weite Ärmel und einen leichten V-Ausschnitt. Ansonsten war es weit geschnitten, sodass ihre Figur kaum erkennbar war. Das gefiel ihr sehr. Obwohl das Kleid aus viel Stoff bestand und langärmlig war, fühlte es sich dennoch leicht an und gab nicht zu viel Wärme ab, da der Stoff sehr dünn war.
Anna kehrte in ihr Zimmer zurück, begab sich zu den Fenstertüren und schaute hinaus. Vor ihr erstreckte sich ein wunderschöner japanischer Garten, dem Anschein nach, war dieser sehr gross war, denn sie konnte kein Ende des Gartens erkennen. Anna dachte, dass ihr frische Luft guttun würde. Sie öffnete die Fenster und trat auf die Veranda. Sie schlenderte entlang der Veranda bis zur Treppe, die in den Garten führte. Gerade als sie die Treppe hinuntergehen wollte, fiel ihr ein, dass sie barfuss war. Also blieb sie an der Treppe stehen und betrachtete den Garten.
Es war ein warmer Frühlingsmorgen, und Anna genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie schloss die Augen und ließ die letzten Erinnerungen Revue passieren. Sie war frei, nach allem, was passiert war und nach allem, was sie getan hatte. Nach allem, was sie getan hatte...
Anna öffnete ihre Augen, doch es war zu spät. Vor ihren Augen tauchten Bilder auf, wie sie Bors umgarnte, ihn küsste, ihn befriedigte und mit ihm Sex hatte. Ein Zittern durchfuhr Anna, sie hatte Schwierigkeiten zu atmen und suchte Halt an der Verandasäule. Langsam setzte sie sich auf die oberste Stufe der Treppe und starrte ins Leere. Sie konnte sich nicht bewegen und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken, als an das, was sie getan hatte. Immer wieder sah sie vor ihrem inneren Auge, was sie getan hatte. Sie hatte keine Ahnung wie lange sie so gesessen hatte, irgendwann hörte sie eine bekannte Stimme, doch sie konnte sich aus ihrer Starre nicht lösen. Kenshin tauchte in ihrem Blickfeld auf, doch sie konnte sich immer noch nicht rühren.
„Anna? Alles in Ordnung?", fragte Kenshin besorgt, als er vor ihr stand und in Hocke ging, doch Anna konnte nicht antworten. Sie starrte weiter vor sich ihn.
„Anna?", rief Kenshin besorgt und als sie immer noch nicht reagierte, richtete er sich schnell wieder auf. Sie hörte, wie er nach Steven rief, als er aus ihrem Blick verschwand. Irgendwann stand dann plötzlich Steven vor ihr, sie registrierte seine Besorgnis.
„Anna? Was ist los?", fragte Steven mit besorgter Stimme, doch auch bei Steven konnte sich Anna nicht rühren oder antworten.
„Anna rede mit mir!", befahl Steven sanft, aber mit ängstlicher Stimme. Anna blickte jedoch weiter starr ins Leere.
„Steven was ist los mit ihr?", hörte Anna Kenshin besorgt fragen.
„Ich weiss es nicht.", antwortete ihm Steven und richtete sich auf. „Ich glaube sie hat einen Schock, aber ich weiss nicht von was."
„Wir sollten ihre Hilfe holen!"
„Was meinst du damit?"
„Ich meine damit, dass sie, nach allem was sie durchgemacht hat, professionelle Hilfe braucht."
„Kenshin ich weiss nicht ob es eine gute Idee ist einen Psychiater zu holen.", hörte Anna Steven noch sagen, dann wurden die Stimmen von Kenshin und Steven leiser. Einen Psychiater? Sie wollte keinen Psychiater, sie brauchte keinen und ausserdem könnte ihr kein Psychiater helfen. Keiner könnte das. Niemand kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Da sass sie nun, schämte sich für das was sie getan hatte, obwohl sie keinen Grund dafür hatte. Hatte sie das nicht alles für ihre Freunde getan?
Stevens Stimme ertönte in ihrem Kopf: „Bist du wirklich bereit alles für deine Freunde zu opfern? Deine Familie? Deine Heimat? Deine Freiheit? Sogar dich selbst zu opfern?"
Anna schloss schwermütig die Augen, sie hatte immer gedacht, sie kenne den Preis, um ihre Freunde zu retten, aber anscheinend nicht. Sie hatte alles was sie hatte geopfert und jetzt begann sie zu realisieren, dass sie nichts wieder zurückbekommen würde. Bors hatte sie zerstört, sie wird nie frei sein, solange er noch lebt. Sie wird vielleicht wieder mit ihrer Familie vereint sein, aber es wird niemals wieder dasselbe sein. Sie wird niemals wieder dieselbe sein. Anna öffnete ihre Augen und stand langsam auf, ihre Muskeln taten weh vom langem Stillsitzen. Wie betäubt ging sie die Veranda entlang, setzte sich auf die Lounge, die auf der Veranda platziert worden war, da sie keine Ahnung mehr hatte wo ihr Zimmer lag.
Sie blickte erneut starr über den Garten, versuchte an nichts zu denken, damit die Bilder von ihren Taten, vor ihren Augen verschwanden. Doch sie schaffte es nicht die Bilder von ihr und Bors zu vergessen.
„Anna?"
Steven rief sie mehrmals beim Namen, doch sie reagierte nicht, erst als er sie am Arm berührte, blickte Anna ihn an und sie konnte diese Berührung kaum ertragen, obwohl es Steven war. Steven bemerkte ihren leidenden Blick und nahm rasch seine Hand weg.
„Anna es ist bereits Nachmittag, willst du nichts trinken oder essen?", fragte er besorgt und setzte sich neben ihr auf der Lounge. Anna spürte seine Wärme und zum ersten Mal fühlte sie sich unwohl in Stevens Nähe.
„Anna bitte sprich mit mir!", bat Steven leise und wollte ihre Hand in sein Nehmen, doch Anna zuckte bei seiner Bewegung zusammen, sodass er innehielt. Steven presste die Lippen zusammen und stand wieder auf.
„Ich hole dir ein wenig Wasser, falls du durstig bist.", meinte er leise und verschwand ins Haus. Anna blickte ihm nach, sie wusste nicht, wieso sie seine Berührungen nicht mehr ertrug. Sie wusste nur, dass sie momentan keine Berührung ertragen konnte, von niemandem. Sie starrte weiter in den Garten, bis jemand erneut ihren Namen rief.
„Anna da ist jemand für dich.", meinte Kenshin und Anna blickte ihn an. „Jemand der dir helfen kann."
Hinter Kenshin trat ein Mann mittleren Alters hervor, er war gross und schlank mit braunen Haaren, an den Schläfen bereits von grauen Strähnen durchzogen. Seine hellbraunen Augen wurden durch seine Brille leicht vergrössert und in seinem grauen Anzug wirkte er ein wenig spiessig, jedoch war sein Lächeln warmherzig.
„Hallo Anna, ich bin Dr. Damian Johnson.", stellte sich der Mann vor und setzte sich auf einem Lounge Sessel ihr gegenüber. Anna brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es sich um den Psychiater handelte, den Kenshin ihr besorgt hatte.
„Ich lasse euch dann mal alleine.", sagte Kenshin und blickte Anna verunsichert an.
„Vielen Dank kaiserliche Hoheit.", bedankte sich Dr. Johnson und nahm einen Block aus seiner Aktentasche, während Kenshin die Veranda verliess. Anna blickte wieder starr in den Garten, bewahrte den Psychiater aber leicht im Augenwinkel, welcher aus seinem Jackett einen Kugelschreiber herausnahm. Er lehnte sich im Sessel zurück und beobachtete sie, sagte aber nichts. So sassen sie eine Weile, während Anna erneut mit den Bildern von ihr und Bors kämpfte, beobachtete Dr. Johnson sie.
„Anna Sie wissen doch, dass ich Psychiater bin und dass ich hier bin, um Ihnen zu helfen?", fragte er sie nach einer Weile, doch Anna reagierte nicht. „Aber Sie müssen schon mit mir reden, sonst kann ich Ihnen nicht helfen."
Anna reagierte immer noch nicht, er konnte ihr nicht helfen. Wieder sassen sie eine Weile schweigend da.
„Ich weiss, dass Sie leiden Anna, ich sehe es Ihnen an.", durchbrach Dr. Johnson erneut die Stille. „Sie können mit mir reden. Ich weiss was Sie durchgemacht haben und wie Sie sich fühlen."
„Sie wissen gar nichts!", zischte Anna ihn an. Sie blickte den Psychiater wütend an, wie konnte er sich anmassen zu wissen, was sie erlebt hatte.
„Anna ich hatte schon mehrere Patienten, welche sexuell missbraucht worden sind. Ich weiss was Sie jetzt gerade durchmachen.", erwiderte Dr. Johnson ruhig.
„Nein, wissen Sie nicht!", entgegnete Anna mit beherrschter Stimme, während sie immer wütender wurde. „Sie haben keine Ahnung, was ich ertragen musste! Was ich getan habe! Sie wissen gar nichts, deswegen können Sie mir nicht helfen und ich will Ihre Hilfe auch nicht!"
Wütend stand sie auf und lief ins Haus, sie hatte keine Ahnung wohin. Sie wollte einfach weg. Sie landete im Wohnzimmer, wo Kenshin und Steven sie überrascht anschauten.
„Anna ist alles in Ordnung?", fragte Steven besorgt, stand vom Sofa auf und ging zu ihr hin. Annas Wut wich in Angst um, Angst vor Berührungen und es schnürte ihr die Kehle zu. Schnell machte sie kehrt, rannte durch das ihr unbekannte Haus. Sie wusste nicht wie, aber irgendwie war sie wieder auf der Veranda gelandet, doch sie rannte weiter in den Garten, dass sie barfuss war, war ihr egal. Sie wollte einfach nur weg!

Gefangen im Schatten der Angst - Wieso er?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt