Kenshin konnte nur zusehen, wie Anna den Pavillon verliess und fluchtartig von ihm weglief. Er rief ihr zwar nach, aber sie rannte weiter und ignorierte ihn. Wütend und frustriert schlug er mit der rechten Faust voller Wucht in einer der Säulen ein und ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Hand aus. Es juckte ihn nicht, alles war besser, als den Schmerz in seinem Herzen zu spüren, also schlug er nochmals zu und nochmals, bis er Blut an der Säule sah. Erst dann hörte er auf, mehr aus Vernunft, als vor Schmerz. Er betrachtete seine rechte Hand, seine Haut war an den Knöchel aufgeplatzt und voller Blut, doch es interessierte ihn nicht. Sein Herz schmerzte immer noch mehr, als seine Hand.
Ohne jeglichen Gedanken verliess er den Pavillon, ging durch den Garten, immer weiter weg vom Palast. Am Rande des Gartens blieb er vor einem grossen Kirschlorbeer stehen. Hier hatten sich Steven und er früher immer versteckt, wenn sie nicht gefunden werden wollten. Ohne gross zu überlegen kroch er unter den Busch, welcher von Innen beinahe hohl war. Früher als Kind war es ihm riesig vorgekommen, er und Steven waren auf den Ästen geklettert. Heute wirkte dieser jedoch eher klein, doch er passte immer noch darunter. Er würde sogar vermuten, dass Steven hier noch Platz finden würde. Es stimmte ihn traurig, dass sein Verhältnis zu Steven in den letzten zwei Jahren so angespannt war. Und dies, weil er sich in Anna verliebt hatte. Eine Liebe welche zum Scheitern verurteilt war, wie es schien.
So sass Kenshin unter den Busch, den Rücken an die Palastmauer gelehnt und suhlte sich in Selbstmitleid. Er wusste, dass er bereits zu lange unter diesen Busch sass, doch er wollte einmal sich nicht zusammenreissen müssen. Irgendwann hörte er Schritte, welche näherkamen.
„Kenshin?", hörte er Steven rufen, doch er antwortete nicht. Das Rascheln der Blätter liess Kenshin vermuten, dass Steven zu ihm unter den Busch kroch. Wie erwartet kam Steven zwischen den Blätter hervor. Ein kurzer Blick von Steven reichte aus, um zu wissen, in welcher Verfassung Kenshin sich befand und er setzte sich kurzherum neben ihm. Stevens Blick fiel auf seine verletzte Hand, sofort nahm er Kenshins Hand und untersuchte missbilligend die Verletzung.
„Anna hat dir also erzählt, dass sie in Hiyokuna bleibt?", fragte Steven leise nach, nachdem er die Hand untersucht hatte und sah ihn von der Seite prüfend an. „Und dass Adrian sie verlassen hat?"
„Ja, das hat sie.", antwortete Kenshin resigniert, ohne Steven anzusehen. Steven nahm es schweigend zur Kenntnis, dennoch konnte Kenshin eine bissige Bemerkung nicht zurückhalten.
„Aber sei Unbesorgt, sie will nicht bei mir bleiben."
„Wieso sollte dies mich glücklich stimmen?", fragte Steven irritiert.
„Ach komm schon Steven, tu nicht jetzt nicht so, als ob du für eine Beziehung zwischen mir und Anna wärst. Wir wissen beide, dass du Anna lieber meilenweit von mir sehen möchtest!", entgegnete Kenshin unwirsch und blickte Steven wütend an. Seine Worte liess Steven betroffen den Kopf senken.
„Das ist nicht wahr.", gab Steven traurig zu. „Nicht mehr."
Kenshin sah ihn überrascht an, doch seine Wut und Enttäuschung war noch nicht verschwunden.
„Vor einigen Tagen, ist mir klar geworden, was ich mit meinem Verhalten Anna angetan habe, und dir.", begann Steven sich zu erklären und sah ihn wehmütig an. „Mir ist klar geworden, dass ich Anna unterstützen soll, ihr den Weg zeigen muss, wenn sie danach fragt, aber ich sollte sie nicht bevormunden und ihr schon gar nicht im Weg stehen, wie ich es getan habe."
„Woher der Sinneswandel?", fragte Kenshin spöttisch, welcher noch nicht wirklich glaubte, was Steven von sich gab.
„Rick hat mir den Kopf zurechtgerückt, mit sehr direkten Worten.", antwortete Steven leicht lächelnd, als ob er sich gerade an die Situation mit Rick erinnerte. Stevens Gesichtsausdruck wurde jedoch schnell wieder ernst.
„Es tut mir leid, was ich dir zugemutet habe. Ich bin für deinen Schmerz verantwortlich, weil ich dich von Anna ferngehalten habe. Es tut mir leid, glaube mir!"
Kenshin glaubte ihm, er hatte schon immer gewusst, weshalb Steven ihm das antat. Anna war wie eine kleine Schwester für ihn. Er hatte sie nur beschützen wollen, Hatte gewollt, dass Anna mit allem Abschliessen konnte, fernab vom Umfeld in welchem ihr so viel Leid geschehen war. Etwas was auch Kenshin gewollt hatte. Einer der Gründe, weshalb er selbst Anna hatte ziehen lassen, mal abgesehen davon, dass er geglaubt hatte, dass Anna Adrian mehr liebte als ihn.
„Es gibt nichts zu verzeihen, Steven.", meinte Kenshin nun und lächelte ihn schwach an. „Anna hat sich selbst von mir ferngehalten und dies durch mein eigenes Verschulden, indem ich mein Vertrauen in die falsche Person gesetzt hatte."
Steven sah ihn verständnislos an und Kenshin erzählte ihm, nach einem tiefen Seufzer, alles was geschehen war. Sogar das er mit Anna das Bett geteilt und mit ihr geschlafen hatte. Stevens Blick wurde darauf dunkel und Kenshin konnte sehen, dass Steven alles andere als begeistert war, doch Steven schluckte sein Ärgernis hinunter.
„Ich hoffe schwer, dass du sie nicht verführt hast, damit sie mit dir ins Bett geht!", warf er ihm dennoch ärgerlich vor.
„Ich habe sie nicht verführt. Ich habe sogar versucht ihr zu widerstehen.", erwiderte Kenshin gereizt. „Aber es ist sehr schwer, Anna zu widerstehen, wenn sie einem auszuziehen versucht!"
„Ist schon gut! Ich möchte es gar nicht wissen, wie es passiert ist!", murrte Steven und hob dabei abwehrend die Hände nach oben. Eine Weile sagte keiner mehr ein Wort, es war aber keine unangenehme Stille. Sie hatten sich ausgesprochen. Hatten sich verziehen. Fehlte nur noch das Bier.
Dass sich Kenshin endlich Steven anvertrauen konnte, hatte ihm gutgetan. Endlich hatte er seinen Bruder wieder. Aber Anna fehlte immer noch.
„Was mache ich jetzt nur Steven?", wollte er schweren Herzens wissen. „Ich liebe sie!"
„Hast du ihr das gesagt?"
Kenshin schwieg, denn er hatte ihr noch nie gesagt, was er wirklich für sie empfindet.
„Kenshin? Hast du ihr gesagt, dass du sie liebst?", hackte Steven nach und sah ihn prüfend an. Kenshin schüttelte den Kopf. Er hatte es ihr nie gesagt, weil er Angst gehabt hatte, sie damit zu erschrecken. Steven seufzte schwer und vergrub kurz sein Gesicht in seine Hände.
„Du bist ein Dummkopf!"
„Ich weiss...", murmelte Kenshin bedrückt, während er weiter geradeaus ins Gebüsch blickte.
„Aber wir kriegen das hin.", meinte Steven und Kenshins Kopf schoss ruckartig zu ihm. Kenshin sah Steven ungläubig an.
„Du willst mir helfen?"
„Natürlich helfe ich dir Bruderherz!", erwiderte Steven mit einem Lächeln, bevor er gedankenverloren ins Gebüsch blickte. „Anna wird Zeit brauchen. Lass ihr die. Momentan gibt es so oder so nichts, was sie von ihrer Entscheidung abbringen würde."
Kenshin nickte resigniert, doch Hoffnung keimte in seinem verletzten Herz auf. Vielleicht war noch nicht alles verloren, er würde aber viel Geduld aufbringen müssen und er konnte nur hoffen, dass er diese hatte.
„Na komm, gehen wir zurück, damit ich dir deine Hand verarzten kann.", sagte Steven sanft. „Ausserdem sucht dich Kanaye bereits schon seit Stunden."
Wieder nickte Kenshin nur resigniert und er atmete tief durch, während Steven bereits aus dem Busch kroch. Kenshins Zeit der Schwäche war vorbei, nun musste er wieder zurück in seinen kaiserliche Modus und Stärke zeigen. Wie er es hasste, aber das war nun mal sein Leben. Er seufzte noch einmal tief, bevor er Steven aus dem Busch folgte.
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Gefangen im Schatten der Angst - Wieso er?
Mystery / ThrillerDer Weg von Anna, einer sechzehnjährigen jungen Frau, ist von schrecklichem Missbrauch und Vergewaltigung geprägt. Trotz der schmerzhaften Erfahrungen, denen sie ausgesetzt ist, stellt sie sich mutig dieser Tortur, um ihre Freunde vor ihrem Entführe...