Anna sass wieder im Gerichtssaal, wartete darauf, dass der Prozess weiterging. Sie hatte sich in der Zwischenzeit weitgehend beruhigt, etwas was sie nur Kenshin zu verdanken hatte. Sie war froh gewesen, dass er sie in einem anderen Raum gebracht hatte. Fort von den anderen. Etwas was ihre Eltern und ihre Freunde von ihr noch mehr Distanzierte, als sie bereits jetzt schon war. Sie wusste, dass sie sich irgendwann damit auseinandersetzen musste, spätestens wenn sie die Rückreise antrat. Doch noch war es nicht soweit. Zuerst musste sie den Prozess hinter sich bringen. Sie hörte nicht wie die Tür für den Angeklagten geöffnet wurde, aber ihr Körper bemerkte Bors Anwesenheit indem dieser sich verspannte. Anna konnte nicht anders als aufzuschauen und sah zu, wie zwei von Kenshins Sicherheitsmänner Bors reinbrachten. Bors Blick war wie immer auf sie geheftet, mit einem bösartigen Grinsen auf den Lippen, was Anna zum Zittern brachte, setzte er sich auf seinem Platz. Kenshin nahm sanft ihre Hand in seine und streichelte beruhigend mit seinem Daumen über ihren Handrücken.
„Ganz ruhig Anna!", flüsterte Kenshin, beinahe unhörbar, da seine Worte nur für sie gedacht war. „Bei mir bist du sicher. Dir geschieht nichts mehr."
Kenshin redete beruhigend auf sie ein, bis man sich für den Richter erheben musste, ihre Hand liess er jedoch nicht los. Anna war so dankbar für seine Stütze, dankbar, dass er an ihrer Seite war. Sie versuchte sich auf den Richter zu konzentrieren und Bors zu ignorieren, das hatte am Anfang ihrer Aussage doch auch gut geklappt.
„Die Jury hat einen Antrag vorzeitiger Beendigung der Gerichtverhandlung gestellt.", informierte Richter Goldsteen jeden Anwesenden und blickte ernst in den Saal. „Der Antrag wird gewährt, wenn die Jury zu einem einstimmigen Urteil gekommen ist!
Anna konnte kaum glauben, was sie hörte. Wie konnte die Jury ein Urteil fällen, wenn noch nicht alle Zeugen gehört wurden? Die Jurys waren doch auf Bors Seite. Sie würden ihn freisprechen. Eine unglaubliche Angst breitete sich in Anna aus, weil ihr bewusst wurde, dass Bors sie bald holen kommen würde.
„Hat die Jury ein einstimmiges Urteil?", fragte Richter Goldsteen und blickte zu den Jurymitgliedern. Ein junger Mann in der Jury stand auf, beim Aufstehen knöpfte er sich sein Sakko zu, bevor er mit fester Stimme für die Jury sprach.
„Die Jury ist zu einem einstimmigen Urteil gekommen, euer Ehren."
„Dann gewähre ich den Antrag auf vorzeitige Beendigung des Prozesses!", verkündete der Richter. „Bitte gebt das Urteil bekannt!"
Während Anna zusah, wie eine ältere Dame der Jury ein gefaltetes Blatt dem jungen Mann übergab, hämmerte ihr Herz wie wild, dass sie glaubte, jeder im Saal würde es hören. So still war es, da alle gebannt auf das Urteil warteten. Ihr Atem stockte und sie drückte Kenshins Hand fester in die ihre.
„Wir, die Jury, befinden den Angeklagten Bors William Winceston, Duke of Shioko, bezüglich der Entführung von Minderjährigen für schuldig!", gab der junge Mann bekannt und machte eine Pause. „Bezüglich Vergewaltigung an Minderjährige, schuldig! Bezüglich Missbrauch, schuldig! Bezüglich Freiheitsberaubung, schuldig!"
Anna hielt weiterhin den Atem an, konnte das gehörte kaum glauben. Glaubte immer noch, dass irgendwo noch ein Haken war.
„Bezüglich Menschenhandel, schuldig! Bezüglich schwere Körperverletzung, schuldig! Bezüglich versuchten Todschlag, schuldig! Bezüglich Verabredung zum Mord, schuldig!", las der junge Mann das Blatt fertig und sah dann zum Richter. „Wir, die Jury, empfehlen die Höchststrafe!"
Der Mann faltete das Blatt wieder zusammen und setzte sich hin. Gebannt sah Anna zum Richter, erlaubte sich immer noch nicht Hoffnung zu haben, dass Bors bekam was er verdiente.
„Der Angeklagte Bors William Winceston, Duke of Shioko, wurde in allen Anklagen Punkten als schuldig befunden. Die Empfehlung der Jury nehme ich zur Kenntnis.", sprach Richter Goldsteen laut und deutlich. „Ich verurteile hiermit den Duke of Shioko zu lebenslanger Haft im Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher Janshen, ohne jegliche Aussicht auf Bewährung! Die Gerichtsverhandlungen sind somit beendet!"
Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch und als ob dies das Zeichen für Annas Körper gewesen wäre, durchströmte eine Erleichterung durch ihre Adern. Eine unglaubliche Last fiel ihr von den Schultern, glaubte zum ersten Mal wieder richtig Atmen zu können. Sie würde sogar behaupten, dass sie sich sowas wie frei fühlte. Sie blickte zu Kenshin, welcher sie freudig in eine Umarmung schlang.
„Das ist dein Verdienst Anna!", flüsterte Kenshin ihr ins Ohr und gab sie schneller wieder frei, als ihr lieb war. Bevor Anna was sagen konnte, nahm Rick sie glücklich in seinen Armen. Freudig erwiderte Anna Ricks Umarmung.
„Ich habe doch gesagt, dass du es schaffst!", sagte Rick erfreut. „Ich habe nie an dir gezweifelt!"
Anna sagte nichts, sie war immer noch sprachlos, dass sie gewonnen hatten. Rick löste die Umarmung und Anna sah zu ihren Freunden. Vanessa weinte vor Glück und in Luljetas Augen glitzerten Freudentränen, sowie bei Sonia. Auch Adrian war überwältigt und sah sie an, wobei er sie in einer Umarmung zog.
„Danke!", flüsterte Adrian, wobei er sie fest an sich drückte und ihr beinahe die Luft zum Atmen nahm.
„Wofür?", fragte Anna ihn verwundert, als er die Umarmung lockerte und sie in sein Gesicht blicken konnte.
„Dass du Ausgesagt hast!", erwiderte Adrian lächelnd. „Ich weiss, dass du dies für uns getan hast und dafür danke ich dir."
Anna sah ihn mit grossen Augen an, brachte gerade noch so ein Lächeln zustande. War es möglich, dass alle glaubten es für ihre Freunde getan zu haben? War es möglich, dass niemand bemerkt hatte, was sie für Kenshin empfand? Obwohl sie ihre Gefühle doch so offenbar gezeigt hatte?
Bevor Anna antworten konnte, brach im Gerichtssaal ein Tumult aus. Ihr Kopf drehte sich automatisch zur Ursache und sie sah, wie Bors sich gegen die Staatsbeamten wehrte, dass sogar Kenshins Sicherheitsmänner helfen mussten.
„DU WIRST MICH NIEMALS LOS ANNA!", schrie Bors ausser sich, als er bemerkte, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. „DU GEHÖRST MIR! UND WAS MIR GEHÖRT, HOLE ICH MIR ZURÜCK!"
Bors kämpfte weiterhin gegen die Sicherheitsmänner an, die ihn nur mit Mühe festhalten konnten.
„KEIN GEFÄNGNIS DER WELT KANN MICH VON DIR FERNHALTEN!!!", tobte er weiter, dabei grinste er teuflisch. Etwas was bei Anna ein Zittern im Körper auslöste und sie krallte sich unbewusst an Kenshins Arm fest, welcher beschützend neben ihr stand. Weitere Sicherheitsmänner von Kenshin kamen hinzu und zerrten Bors aus dem Gerichtssaal, fünf Männer waren dazu nötig, dennoch konnte Anna seine, vor Wut schäumenden Worte hören.
„DU GEHÖRST MIR ANNA! ICH WERDE DICH HOLEN KOMMEN!"
Bors wütende Schreie hörte man auch noch, nachdem die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Im Gerichtssaal wurde laut gemurmelt und Köpfe wurden geschüttelt. Die Zuschauer waren entsetzt über Bors Verhalten und die meisten konnten nicht fassen, wie sehr sie sich im Duke of Shioko getäuscht hatten. Anna starrte immer noch auf die Tür, hinter der Bors weggebracht worden war. Ihr Körper hörte nicht auf zu zittern und es wurde schlimmer, wenn sie an Bors bedrohliche letzten Worte dachte; Ich werde dich holen kommen!
Anna konnte nur hoffen, dass Bors niemals aus diesem Gefängnis ausbrechen konnte. Doch nach Bors Worten und wie sie ihn kannte, wurde ihr bewusst, dass für ihn nichts unmöglich war, solange er es wollte.
„Komm Anna! Lass uns gehen.", sprach Kenshin sanft und riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Anna nickte nur, zwang sich ihre Gefühle zu unterdrücken, was sie mit Müh und Not hinkriegte. Sie löste ihren Griff um Kenshins Arm, etwas was Kenshin mit einem sanftem Lächeln quittierte, bevor er sich in Bewegung setzte. Steven folgte ihm, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken, und ging an ihr und Rick vorbei. Rick legte schützend eine Hand auf ihren Rücken, da er spürte, dass sie noch immer unter dem Schock von Bors Worten stand. Gemeinsam folgten sie Kenshin und Steven aus dem Gerichtssaal. Während sie das Gerichtsgebäude verliessen, war Anna erleichtert, dass sie endlich diesen Ort verlassen durfte und nie wieder zurückkehren musste.
Vor dem Gebäude warteten mehr Journalisten als üblich, und auch mehr Menschen hatten sich dort versammelt. Die Nachricht von Bors Verurteilung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der Lärm draußen war ohrenbetäubend, und die Menschen drängten sich an den Absperrungen, schrien und machten Fotos. Anna konnte die Worte, die sie riefen, nicht verstehen. Waren die Menschen wütend? Erleichtert? Sie versuchte, die Emotionen in ihren Gesichtern zu erkennen, doch Rick schob sie schnell zum Auto, wo Kenshin und Steven bereits warteten. Schnell stiegen Anna und Rick ein, und sobald die Tür geschlossen war, setzte sich das Auto in Bewegung.
Anna blickte auf ihre Hände in ihren Schoss, in ihrem Kopf hallten Bors letzten Worte nach, sodass sie den Sieg über ihn nicht auskosten konnte. Auf einmal nahm jemand ihre Hand in seine und sie bemerkte, dass es Kenshin war. Sie hob überrascht ihren Kopf zu ihm hoch, sah in seine dunkelbraunen Augen, welche sie besorgt betrachteten.
„Es ist vorbei Anna! Er wird dir nichts mehr tun können!", gab Kenshin voller Überzeugung an, dabei streichelte er mit seinem Daumen sanft über ihr Handrücken. Anna nickte, aber nicht überzeugend. Kenshin sollte doch am besten wissen, wie Bors tickt und sollte wissen, dass Bors niemals aufgab.
„Janshen ist ein Hochsicherheitsgefängnis, es hat noch nie jemand geschafft, da auszubrechen!", mischte sich nun Rick ein, welcher wusste, was Anna beschäftigte.
„Und auch Bors wird es nicht schaffen.", versicherte Kenshin ihr. „Er wird der Rest seines Lebens in diesem Gefängnis verbringen! Glaube mir!"
Wieder nickte Anna nur, diesmal überzeugender, weil sie Rick und Kenshin glauben wollte. Sie blickte zu Steven, er hatte seit der Verurteilung von Bors nichts mehr gesagt. Er sah nachdenklich aus dem Fenster und wirkte traurig und zugleich wütend. Anna wollte gerade fragen, was los war, als Rick sie mit einem leichten Tritt auf sich aufmerksam machte. Verwirrt sah sie zu Rick, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Mit gerunzelter Stirn nahm sie es zur Kenntnis und unterdrückte ihre Frage. Als sie am Palast ankamen, stieg Steven sogleich aus und Anna sah ihn besorgt nach.
„Wir sollten unseren Sieg heute feiern!", meinte Kenshin, als sie die Eingangshalle betraten und somit ihre Aufmerksamkeit von Steven nahm. „Ich würde gerne zu diesem Anlass ein kleines Bankett veranstalten."
Anna sah ihn mit grossen Augen an.
„Kenshin, das ist nicht nötig...", fing Anna an, doch Kenshin unterbrach sie.
„Ich weiss! Aber ich möchte deinen Sieg unheimlich gerne feiern!"
Wieder sah Anna ihn ungläubig an. Ihr Sieg? War es ihr Sieg? Während sie noch nach Worten rang, kam Kenshin ihr so nahe, dass kein Blatt mehr zwischen sie gepasst hätte. Sie spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging. Er neigte sich leicht zu ihr hinunter und Annas Verstand setzte komplett aus, während ihr Herz vor Freude schneller schlug.
„Bitte Anna. Lass mich dies für dich tun!", flüsterte Kenshin an ihr Ohr, sein warmer Atem streifte ihren Hals, hinterliess eine angenehme Gänsehaut. Anna konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, außer dem dringenden Wunsch, dass er sie endlich küssen sollte.
„Okay.", hauchte sie schlussendlich, zu mehr war sie gar nicht fähig. Kenshins Nähe brachte ihr Blut zur Wallung und ihr Hirn setzte komplett aus. Kenshin trat einen Schritt zurück und lächelte sie freudig an.
„Wunderbar! Ich bereite alles vor. Wir sehen uns später!"
Mit diesen Worten verliess er die Eingangshalle und erst jetzt bemerkte sie, dass sie allein dort stand. Rick musste die Halle diskret verlassen haben. In diesem Moment hörte sie ein Auto vorfahren und wusste, dass ihre Eltern und Freunde angekommen waren. Schnell stieg sie die Treppe hinauf, sie wollte nicht mit ihnen sprechen. Sie wollte sich noch nicht mit dem Heimweg auseinandersetzen, etwas, worüber ihre Eltern sicherlich sprechen würden.
Oben angekommen hielt sie bei ihrer Suite inne und ihr Blick glitt zur Tür von Stevens Suite. Rick hatte ihr ohne Worte zu verstehen gegeben, dass sie es lassen sollte, aber ihr Herz sagte ihr etwas anderes. Wenn sie traurig gewesen war, hatte Steven immer versucht zu helfen. Er hatte nicht immer helfen können, aber er hatte es wenigstens versucht. Dies zu versuchen, war sie ihm schuldig. Ausserdem war er ihr Bruder, zumindest in ihrem Herzen.
Entschlossen ging sie zur Stevens Suite und klopfte an dessen Tür. Es kam keine Antwort, Anna ging dennoch hinein. Sie blickte sich um, sie war noch nie hier gewesen, da Steven immer zu ihr kam. Es war ein grosser Raum, wie bei ihrer Suite beinhaltete der erste Raum das Wohnzimmer. Ein runder Tisch war gleich links neben der Tür mit drei Stühlen, der Laptop auf den Tisch, liess Anna vermuten, dass Steven an diesem Tisch arbeitete. Ein bisschen weiter vorne stand eine Bar und vor den Fenstern, stand eine Couchgruppe, gegenüber an der Wand der Fernseher.
Anna erblickte Steven auf der Terrasse, er sass in einem Loungesessel und blickte auf seinen Schoss hinunter. Bereits von hier konnte Anna erkennen, wie niedergeschlagen er wirkte und auf einmal wurde ihr bewusst, weshalb er traurig war. Bors Urteil! Bors war immerhin sein Vater. Nun war sich Anna doch unsicher, ob es eine gute Idee war. Trotzdem ging Anna zur Terrassentür, Steven hatte sie immer noch nicht bemerkt und jetzt konnte Anna sehen, dass er ein Glas Whisky in den Händen hielt.
„Es tut mir leid!", entschuldigte sie sich leise, weil ihr nichts anderes im Sinn kam. Steven hob erschrocken den Kopf und lächelte sie aber dann sanft an, wobei es eher nach einem gequältem Lächeln aussah.
„Wofür entschuldigst du dich?", fragte er stirnrunzelnd, während sie sich auf den anderen Loungesessel setzte.
„Dass ich deinen Vater ins Gefängnis gebracht habe."
„Du musst dich für gar nichts entschuldigen Kleines."
„Doch, dass muss ich.", sagte Anna bestimmt und sah Steven aufmerksam an, welcher verächtlich schnaubte.
„Anna du vergisst, dass es die gleiche Person ist, die dir weh getan hat!", erwiderte Steven darauf heftig und nahm einen grossen Schluck Whisky aus seinem Glas.
„Aber für dich nicht.", entgegnete sie sanft und Steven spannte seine Kiefermuskeln an. Er sagte nichts, nahm nochmals einen grosszügigen Schluck Whisky und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich wünsche mir so sehr, dass er dich nie gesehen hätte. Sich nie in dich verliebt hätte! Nur damit er der gleiche bleibt, der er einst war. Diesen gütigen Mann, welcher mich erzogen hat. Dem ich alles zu verdanken habe, was ich bin", gab Steven nach einem kurzen Moment der Stille zu. Zuerst hatte er stur geradeaus geschaut, aber nun sah er sie an. Anna konnte seinen Blick nicht ganz deuten. Sie erkannte Traurigkeit, aber auch Wut in seinen Augen
„So sehr ich dich auch liebe, kleine Schwester. Ich wünsche mir, dass dies alles nie geschehen wäre, auch um deinet Willen."
„Ich weiss...", flüsterte Anna mitfühlend. Wie oft hatte sie sich dies gewünscht? Wenn auch aus anderen Gründen und wenn es bedeutete, dass sie ihre liebsten Menschen nicht kennengelernt hätte.
„Es schmerzt, meinen Vater so zu sehen und dass er ins Gefängnis Janshen muss, bricht mir das Herz, aber er hat es verdient. Bei Gott und wie er es verdient hat, bereits nur für das was er dir angetan hat! Aber er ist mein Vater und ich..."
Steven brach ab und starrte wieder auf das Glas in seinen Händen. Anna betrachtete ihn, begann zu verstehen, dass der Kampf in Stevens Herz niemals aufhören würde. Sie oder Bors? Er würde sich zwar immer für sie entscheiden, doch die Liebe zu seinem Vater würde niemals schwinden.
„Weiss du, nur weil du dich für mich entschieden hast, bedeutet dies nicht, dass du Bors im Gefängnis nicht besuchen darfst.", sagte Anna nun leise, und Steven sah sie ungläubig an, als hätte sie ihm angeboten, die Seiten zu wechseln. „Ich bin mir sicher, dass Kenshin genauso wenig dagegen hat, wie ich."
„Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre und Kenshin würde dies sicherlich nicht tolerieren, geschweige denn verstehen.", erwiderte Steven betrübt.
„Wieso nicht?", wollte Anna wissen. „Es ist genau das gleiche wie damals. Ich habe verstanden, weshalb du ihn nicht verraten konntest und weshalb du dich auch jetzt nicht für immer von ihm distanzieren kannst. Kenshin wird dies ebenfalls verstehen."
Nach ihren Worten war es einen Moment still, Steven sah über die Stadt hinweg und Anna nahm sich eine Zigarette von Stevens Päckchen, welches auf dem Loungetisch lag. Sie zündete sich die Zigarette mit dem Feuerzeug das daneben stand.
„Versprich mir nur eins.", unterbrach sie die Stille, als sie einmal an ihrem Glimmstängel gezogen hat. „Ich möchte nichts von ihm erfahren und wenn er im Sterben liegt, es ist mir egal! Aber wenn er plant auszubrechen, wenn er kurz davorsteht, dann musst du es mir und Kenshin sagen!"
„Fest Versprochen!"
Anna lächelte ihn dankbar an und zog an ihrer Zigarette, während Steven sich eine neue Zigarette anzündete.
„Also nimmst du meine Entschuldigung an?", wollte Anna von ihm wissen und sah ihn fragend an. Steven lachte leise auf und schüttelte leicht den Kopf.
„Nein Anna, tue ich nicht!", erwiderte Steven darauf und Anna sah ihn entsetzt an, sodass er gleich fortfuhr. „Denn es gibt nichts zu verzeihen!"
Steven lächelte sie warmherzig an und Anna atmete erleichtert aus. Er hatte ihr für einen kurzen Moment Angst eingejagt.
„Aber von meiner Seite aus, ist eine Entschuldigung noch offen.", meinte Steven und sah sie entschuldigend an. „Ich habe mich in letzter Zeit, nicht wie den Mann verhalten, dem du Vertrauen gelernt hast. Ich habe mich nicht wie ein Bruder verhalten. Ich habe dich bevormundet, seit du von Bors befreit wurdest, was anfangs noch in Ordnung war, da du nicht du selbst warst und Hilfe brauchtest. Aber ich habe danach nicht aufgehört und das tut mir leid. Ich sollte dir eine Stütze im Leben sein, dir den Weg zeigen, wenn du danach fragst. Ich sollte dich in allem Unterstützen was du willst und einfach für dich da sein und das habe ich nicht."
Anna hörte aufmerksam zu und ihre Augen füllten sich beinahe mit Tränen, weil sie genau diesen Steven vermisst hatte.
„Bitte verzeih mir. Ich wollte dich nur beschützen und habe damit alles falsch gemacht."
„Ich würde ebenfalls gerne sagen, dass es nichts zu Verzeihen gibt, aber das wäre gelogen.", gab Anna ehrlich zu und lächelte dabei schwach. „Aber ja, ich verzeihe dir! Wie könnte ich dir jemals nicht verzeihen?!"
„Denk daran, wenn ich beim nächsten Mal etwas getan habe!", wies Steven sie halblachend darauf hin, trank dabei sein Glas leer und wurde dann ernster. „Danke Kleines!"
„Danke dir!"
Steven lächelte sie erneut warmherzig an, da er wusste, wie wichtig ihr diese Entschuldigung war. Anna drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, ebenso wie Steven, der gleichzeitig aufstand.
„Ich hoffe, du nimmst nicht nochmals ein Glas.", gab sie bedenklich an, wobei Stevens Augenbrauen in die Höhe schossen. „Kenshin organisiert ein kleines Bankett. Er möchte feiern, dass wir den Prozess gewonnen haben."
„Er hat recht, dies muss gefeiert werden.", stimmte Steven Kenshin zu und lächelte dabei. „Vielleicht ziehst du dich dafür um."
Anna sah an sich runter und runzelte dabei die Stirn. Was war mit diesem Kleid nicht in Ordnung?
„Wenn Kenshin ein Bankett meint, ist Abendgarderobe gemeint, Kleines.", teilte Steven ihr mit, als er ihren Blick sah. Kurz überlegte Anna, ob sie etwas eingepackt hatte, dass als Abendkleid durchging. Doch für einen solchen Anlass hatte sie nichts eingepackt.
„Ich habe kein Abendkleid dabei Steven.", liess Anna ihn panisch wissen. „Und meine Eltern und Freunde bestimmt auch nicht."
„Ich denke, Kenshin hat dies sicher bedacht und macht es ganz zwanglos.", versuchte Steven die Situation herunterzuspielen, während Anna aufstand und ihn zweifelnd ansah.
„Nichts desto trotz, sollte ich mich nochmals frisch machen.", meinte sie und wollte die Terrasse verlassen, als Steven sie zurückrief.
„Kleines?"
„Ja?"
Anna drehte sich fragend zu Steven um.
„Danke! Für alles!"
Anna lächelte ihn liebevoll an und Steven erwiderte das Lächeln.
„Immer wieder Bruderherz."
Stevens Lächeln wurde breiter und sie verabschiedete sich mit einem bis gleich. Schnell verliess sie Stevens Suite, denn es war schon bald sechs Uhr Abend und um diese Zeit wurde immer gegessen. Sie war schon fast bei ihrer Suite angekommen, als Helene aus dieser herauskam.
„Ah Miss Turner, perfektes Timing.", begann die Gouvernante sogleich zu reden an. „Ich habe Ihnen gerade Ihr Kleid für heute Abend aufs Bett gelegt. Das Bankett startet um zwanzig Uhr."
„Mein Kleid?", erwiderte Anna ein wenig verdattert.
„Ja, seine kaiserliche Hoheit hat für den heutigen Abend ein Kleid für Sie organisiert."
„Aber meine Freunde und Eltern haben keine Abendkleider. Ich dachte, es wäre eher Zwanglos und..."
„Machen Sie sich keine Sorgen Miss Turner.", unterbrach Helene sie freundlich. „Seine kaiserliche Hoheit hat alles organisiert."
„Für alle Kleider in der richtigen Grösse?", hackte Anna zweifelnd nach. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern oder Freunde sich fehl am Platz fühlten, nur weil sie nicht die passenden Kleider hatten.
„Seien Sie unbesorgt.", meinte Helene lachend. „Es wurde für jeden eine kleine Auswahl gebracht und die Kleider und Smokings sind nur geliehen."
Immerhin hatte Kenshin die Kleider nicht gekauft, dies wäre zu viel gewesen. Anna bedankte sich dennoch etwas verlegen bei der Gouvernante und ging schnell in ihre Suite. Sie wollte duschen und sich dann fertig machen. Im Schlafzimmer blieb sie jedoch stehen, als ihr Blick auf das Kleid fiel, welches auf dem Bett lag und ihr stockte kurz den Atem. Es war ein schlichtes, langes Seidenkleid mit Spaghettiträgern und dezentem Ausschnitt. Aber das war nicht der Grund, warum sie innegehalten hatte. Der Grund war, dass das Kleid in einem purpurroten Farbton gehalten war. Die Farbe der Kaiserfamilie, die nur ihnen vorbehalten war.
Für einen kurzen Moment dachte sie daran, Helene um ein anderes Kleid zu bitten, aber das wäre unhöflich und ihre Freunde und Eltern kannten diese Regel nicht. Es wäre jedoch respektlos gegenüber Adrian.
Aber wenn er nicht weiss, was es bedeutet, ist es nicht respektlos, ertönte eine kleine fiese egoistische Stimme in ihrem Kopf. Es wäre dennoch nicht richtig, weil ich es weiss, dachte sich Anna. Andererseits war da noch ein anderes Gefühl. Das Gefühl zu Kenshin gehören zu wollen und wenn es nur für diesen einen Abend war. Danach würde sie wieder in die Heimat fliegen und ihn wahrscheinlich nie mehr wieder sehen, also beschloss sie das Kleid anzuziehen.
Sie eilte unter die Dusche, wusch sich, trocknete sich danach ab, sowie ihre Haare. Sie cremte sich mit Bodylotion ein, schmierte sich Gesichtscreme und Make-Up ins Gesicht, wobei sie versuchte ihre Wunde abzudecken, sowie ihr blauer Fleck und puderte sich ein wenig, damit sie im Gesicht nicht glänzte. Beim Auftragen eines dünnen schwarzen Lidstrichs fluchte sie mehrmals, da es ihr nicht auf Anhieb gelang und sie es zweimal von vorne beginnen musste, bis es schließlich zu einem dezenten, dünnen Strich wurde. Sie betonte ihre Augenbrauen leicht, trug Mascara auf und wählte einen Lippenstift in natürlicher Farbe, wobei sie darauf achtete, den Schorf an ihrer Lippe nicht aufzureißen.
Zurück ins Schlafzimmer ging sie zuerst in den Ankleideraum, suchte sich aus ihrem Koffer die passende Unterwäsche heraus und schlüpfte dann ins Kleid. Das Kleid passte ihr wie angegossen und schien wie eine zweite Haut. Sie musste zugeben, dass sie dieses Kleid liebte, wäre es doch nur nicht purpurrot.
Unsinn!
Sie liebte es vor allem, weil es diese Farbe hatte. Sie zog noch hohe schwarze Sandalen an und legte sich die schwarze Chiffon Stola um die Schulter, welche zum Kleid gebracht wurde, dann war sie bereit.
Ein Blick auf die Uhr im Wohnzimmer sagte ihr, dass sie fast eine ganze Stunde zu früh war, etwas was sie überraschte. Sie brauchte zwar nie lange, aber es war doch schon ein Weile her, dass sie sich hübsch gemacht hatte. Sie beschloss, nach ihren Freundinnen zu sehen, vielleicht waren sie in Bezug auf das bevorstehende Bankett völlig verzweifelt. Sie verliess ihre Suite und ging eine Etage tiefer. Zuerst klopfte sie an Vanessas Tür, aber niemand öffnete. Also klopfte sie als nächstes an Luljetas Tür. Eine nervöse Vanessa öffnete ihr schließlich die Tür und sie sah umwerfend aus. Sie trug ein zartrosafarbenes A-Linien-Chiffonkleid mit Neckholder, das ihre geringe Oberweite betonte.
„Hey...", grüsste Anna murmelnd, als Vanessa sie überrascht ansah. Verständlich, wenn Anna ihre Freundinnen seit Tagen aus dem Weg ging.
„Ich dachte, vielleicht braucht ihr Hilfe?", sagte Anna leise und kaute dann nervös auf ihre Lippen. Ein schüchternes, aber ehrliches Lächeln erschien auf Vanessas Lippen.
„Sonja und ich sind bereits fertig, aber ich glaube Lu könnte deine Hilfe gebrauchen.", liess ihre Freundin sie wissen und trat zur Seite, damit Anna eintreten konnte.
„Wenn es Adrian ist, lass ihn nicht rein Ness!", rief Luljeta aus dem Badezimmer und ihre Stimme verriet eine leichte Spur von Stress. „Ich bin noch nicht angezogen!"
Anna betrat das geräumige Zimmer, in dem Sonja auf dem Bettrand saß und darauf wartete, dass Luljeta fertig wurde. Sonja trug ebenfalls ein A-Linien-Kleid aus Chiffon, aber ihr Kleid reichte fast bis zum Hals und hatte kurze Ärmel. Der obere Teil bestand aus Spitze und das Kleid strahlte in einem zarten Lavendelton. Als Sonja sie sah, war sie genauso überrascht wie Vanessa zuvor.
„Es ist nicht Adrian.", rief Sonja für Vanessa zurück, dabei lächelte sie Anna herzlich an. Verwirrt lugte Luljeta aus dem Badezimmer hervor und starrte Anna völlig perplex an.
„Ness sagte, du könntest noch Hilfe gebrauchen.", sagte Anna leise und sah Luljeta an, welche ein paar Sekunden brauchte, um sich von der Tatsache zu erholen, dass Anna in ihrem Zimmer stand.
„In der Tat! Du musst mir sagen, welches Kleid ich anziehen soll! Ich kann mich einfach nicht entscheiden!", liess Luljeta sie wissen und kam nur in Unterwäsche aus dem Badezimmer. Sie zeigte Anna die Kleider, die auf einer rollenden Kleiderstange zur Auswahl standen. Anna betrachtete die Kleider, während Luljeta ein himmelblaues Chiffonkleid ausprobierte, das ihr jedoch zu groß war. Anna reichte ihr dann das dunkelgrüne Kleid mit V-Ausschnitt, Spaghettiträgern und einer Schleife um die Taille, ebenfalls aus Chiffon. Das Kleid passte ihr fast perfekt, und Luljeta war glücklich. Sie hüpfte vor Aufregung wie ein Gummiball auf und ab.
„Als würden wir auf einem Ball gehen!", quickte sie voller Freude und Anna konnte nicht anders als dabei zu Lächeln. Sie war froh, dass ihre Freundinnen sie ohne Kommentar wieder aufgenommen hatte, hatte Anna sie doch selbst ignoriert. Auch Adrian war froh, sie wieder bei sich zu haben.
„Schön dich wieder bei uns zu haben.", sagte er lächelnd, als er die Mädchen abholte, ohne zu wissen, dass sie hier sein würde, dann hatte er eine Hand um ihren Nacken gelegt und sanft geküsst. „Du siehst wunderschön aus."
Für einen kurzen Moment fühlte sich Anna, als würde sie ihn betrügen, in Bezug auf ihr Kleid. Doch als sie den Salon betrat und Kenshin sah, verschwand dieses Gefühl wieder. Kenshins Blick, der sie gleichzeitig heiß und kalt werden ließ, ließ sie alles andere vergessen, und sie beschloss, den Abend so gut wie möglich zu genießen. Es könnte einer der letzten Abende mit Kenshin sein, und wenn das der Fall war, so soll sie heute Abend zu ihm gehören, wenn auch nur in ihren beiden Gedanken.
Diese Lesenacht wird meiner Meinung immer besser. 😄Bors hat seine verdiente Strafe erhalten und wird für immer eingesperrt werden. Welch eine Erleichterung! Endlich!
Aber wird ein Gefängnis Bors wirklich halten können?
Votes und Kommentare willkommen. :))
DU LIEST GERADE
Gefangen im Schatten der Angst - Wieso er?
Mystery / ThrillerDer Weg von Anna, einer sechzehnjährigen jungen Frau, ist von schrecklichem Missbrauch und Vergewaltigung geprägt. Trotz der schmerzhaften Erfahrungen, denen sie ausgesetzt ist, stellt sie sich mutig dieser Tortur, um ihre Freunde vor ihrem Entführe...