Kapitel 30 Teil 1

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„Du musst die Sehne vollständig zurückziehen.", gab Kenshin lachend an. „Sonst wird das nichts."
„Es ist nicht einfach, die Sehne nach dem gefühlten hundertsten Mal zurückzuziehen.", erwiderte Anna leicht pikiert, weil sie keine Kraft mehr in den Armen hatte, um die Bogensehne vollständig zu spannen. Frustriert blickte Anna auf die Zielscheibe einige Meter vor ihr, wo der letzte Pfeil, leicht schräg in der Scheibe hing und kurz davor war, von der Scheibe runterzufallen. Anna griff genervt nach einem weiteren Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne, während Kenshin ihr amüsiert zusah. Mit zusammengebissenen Zähnen zog Anna die Bogensehne zurück, während jeder Muskel in ihren Armen protestierte. Dennoch nahm sie sich so viel Zeit wie möglich, um die Zielscheibe ruhig anzuvisieren und dabei gleichmässig zu atmen. Schliesslich liess sie die Sehne los und der Pfeil flog direkt in die Mitte der Zielscheibe, wo er stecken blieb. Anna konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken.
„Siehst du, du musst die Bogensehne nur vollständig zurückziehen.", sagte Kenshin schmunzelnd und Anna warf ihm einen bösen Blick zu.
„Ich habe einfach zu wenig Kraft.", murrte sie, auch wenn der letzte Pfeil ein voller Erfolg war.
„Ich weiss, da hilft nur tägliches Training oder Muskelaufbau.", meinte Kenshin verständnisvoll und nahm ihr den Köcher und Bogen ab. Anna ging zur Zielscheibe und entfernte die von ihr abgeschossenen Pfeile. Sie übergab sie Kenshin, der sie in den Köcher legte und dann ins kleine Häuschen ging, um den Bogen und den Köcher zu verstauen.
„Du weisst, dass du den Fitnessraum ebenfalls benutzen kannst?", wollte Kenshin wissen, als er wieder hinauskam und sie sich auf den Weg zurück zum Palast machten. „Er ist nicht nur für die Sicherheitsmänner da. Auch ich trainiere dort."
„Willst du mir damit etwas sagen?", fragte Anna und hob eine Augenbraue nach oben, dabei lachte Kenshin leise.
„Es wäre nicht verkehrt, wenn du Muskeln aufbaust. Du könntest dann besser mit dem Bogen umgehen und mich vielleicht öfter im Jiu-Jitsu zu Boden bringen."
„Oh, das tut weh!", sagte Anna mit gespieltem Entsetzen, legte dabei eine Hand auf ihr Herz, woraufhin Kenshin herzhaft lachte.
„Ehrlichkeit währt am längsten.", erwiderte er darauf lachend und Anna spürte, wie ihr die Kehle zuschnürte, da es sie daran erinnerte, dass sie ihn belogen hatte. Eine ganze Woche war seit ihrem Besuch bei Bors im Gefängnis vergangen und bisher war er nicht ausgebrochen. Für Anna war das eine Erleichterung, denn es bedeutete, dass es ihr gelungen war, Bors von sich fernzuhalten. Die Auswirkungen dieser Situation hatten sie jedoch stark belastet. Sie fühlte sich erschöpft, war oft in Gedanken versunken und hatte wiederholt Alpträume gehabt. Natürlich war es Kenshin aufgefallen, doch er fragte nicht nach, hoffte dass sie es ihm einfach von selbst erzählen würde, was sie jedoch nicht tat. Das Unausgesprochene belastete ihre Beziehung zusätzlich, dass Anna nichts zu tun hatte, kam noch hinzu, auch Steven war dies aufgefallen. Daher war der heutige Morgen eine willkommene Abwechslung. Kenshin hatte sich frei genommen und sie hatten gemeinsam lange Jiu-Jitsu trainiert. Anschließend hatte Kenshin ihr die Kunst des Bogenschießens beigebracht. Annas Muskeln waren entsprechend müde und sie sehnte sich nach einem entspannenden Bad. Dennoch verabschiedete sie sich für eine Weile von Kenshin, denn sie wollte noch meditieren.
Nach der Meditation ging Anna unter die Dusche, ihre beanspruchten Muskeln genossen die heisse Dusche und Anna fühlte sich danach ein wenig belebter. Nachdem sie sich angezogen hatte, ging sie nach unten zum Mittagessen. Kenshin, Steven und Rick sassen bereits am Tisch und warteten nur noch auf sie, da Daichi heute seinen Vater besuchte. Daichi war deswegen bereits seit gestern nervös, er hatte seinen Vater beinahe acht Jahre nicht mehr gesehen und da Takahashi bereits früher seinen Sohn nur sporadisch besuchte, kannte Daichi seinen Vater kaum. Für Anna war dies unverständlich, aber Kenshin erklärte ihr, dass sich die meisten Adligen nicht persönlich um ihre Kinder kümmerten. Auch das gemeinsame Essen am Tisch war nicht in jeder Adelsfamilie üblich. Die Erziehung wurde zwar von den Eltern überwacht, aber nicht von ihnen selbst durchgeführt. Dafür gab es Lehrer, die die gleichen Ansichten wie die Eltern teilten.
Nach dem Mittagessen zogen sie sich in den grossen Salon zurück, wo Kenshin und Anna eine Partie Schach spielten. Steven beobachtete das Spiel aufmerksam, während Rick ein Buch las, aber immer wieder aufblickte, um einen kurzen Blick auf das Spiel zu werfen. Sie waren bereits mitten im Spiel, als plötzlich die Eingangstür mit einem lauten Knall zugeschlagen wurde. Anna zuckte zusammen und richtete ihren Blick auf die weit geöffneten Türen, durch die man einen Teil der Eingangshalle sehen konnte, so wie jeder andere Anwesende. Sie sah, wie Daichi wütend die Treppe hinaufging, und rief ihm sofort hinterher. Schon von Weitem konnte Anna erkennen, dass Daichi sie am liebsten ignoriert hätte, aber Kenshins gute Erziehung liess dies nicht zu. Wütend stampfte Daichi in den grossen Salon und blieb vor ihnen stehen. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben und er vermied es, jemandem ins Gesicht zu sehen, während er leicht den Blick senkte.
„Ist alles in Ordnung Daichi?", fragte Kenshin besorgt, doch Daichi sagte nichts, blickte weiterhin zu Boden, während seine Wut förmlich spürbar war.
„War etwas mit deinem Vater?", fragte Anna einfühlsam, denn es konnte nur etwas mit Takahashi zu tun haben. Schlussendlich kam Daichi gerade vom Treffen mit seinem Vater. Bei der Erwähnung seines Vaters hob Daichi ruckartig den Kopf hoch.
„Ich will ihn nie mehr wieder sehen!", zischte Daichi wütend hervor und Anna sah ihn perplex an, während Kenshin nur schwermütig ausatmete. Steven sah ebenfalls Daichi überrascht an, wohingegen Rick so tat als würde er lesen, denn es war schliesslich eine Familienangelegenheit.
„Weshalb?", fragte Anna weiterhin einfühlsam. „Was ist passiert?"
„Tut nicht so, als wüsstet ihr nicht, wie er ist!", erwiderte Daichi wütend und sah dabei Kenshin an. „Oder wie soll ich es sonst verstehen, dass du mich zu dir genommen hast und ich ihn so lange nicht sehen durfte?"
„Daichi es tut mir leid...", begann Kenshin sich zu entschuldigen und stand dabei auf, doch Daichi unterbrach ihn.
„Was tut dir leid? Dass ich ein egoistischer, machthungriger und sexistischen Vater habe? Oder dass du es nie für Nötig gehalten hast, es mir zu sagen?", warf er ihm wütend vor und sah sie dann alle an. „Wohlgemerkt, dass keiner es für Nötig empfunden hat, mir dies jemals zu sagen."
„Wir wollten nicht, dass du voreingenommen deinen Vater gegenübertritts Daichi.", verteidigte Anna sich für alle. „Du sollst deine eigene Meinung über ihn bilden, ohne unseren Einfluss. Wir haben ihn alle seit fast acht Jahren nicht mehr gesehen und er hätte sich verändern können. Dir zuliebe!"
„Nun, das hat er nicht.", entgegnete Daichi und seine Wut stieg, doch Anna konnte auch den Schmerz erkennen, den er mit sich trug. „Stattdessen hat er mir deutlich gemacht, wie enttäuscht er von meiner Entwicklung war, nachdem ich ihm voller Stolz erzählt habe, was ich alles kann."
„Dann ignoriere seine Worte.", sagte Kenshin mit bestimmter Stimme. „Wir sind stolz auf deine Fähigkeiten und dass ist was zählt. Ich bin stolz, wie du dich entwickelt hast."
Steven und Anna nickten zustimmend und lächelten ihn stolz an, denn Daichi hatte sich wirklich wunderbar entwickelt. Daichi presste die Kiefermuskeln zusammen, nickte, aber seine Wut war noch nicht verraucht.
„Warnt mich das nächste Mal, wenn ich wieder ein Arschloch treffe, bevor ich mir anhören muss, wie dieser Anna zutiefst beleidigt!", meinte Daichi noch, bevor er sich umdrehte und wütend aus dem Raum stürmte. Anna sah ihm mit grossen Augen nach und wandte sich dann Kenshin und Steven zu. Kenshin schloss schwermütig die Augen, kniff sich dabei an die Nasenwurzel und atmete tief aus.
„Du bist für Daichi immer noch ein grosses Vorbild!", erklärte Steven, da Anna ihn verständnislos ansah.
„Das verstehe ich immer noch nicht.", erwiderte Anna und runzelte die Stirn. „Ich habe nichts getan, dass ihn so zu mir aufsehen lässt."
„Anna, Daichi kennt mittlerweile deine ganze Geschichte!", entgegnete Steven leise und Anna sah ihn mit aufgerissenen Augen an. „Kannst du dir nicht vorstellen, wie sehr ihn dein Mut und deine Stärke beeindruckt? Die Art und Weise, wie du immer weitermachst? Das bewundert er so sehr an dir."
Anna schluckte schwer, sie hatte gewusst, dass Daichi sie bewunderte, als kleiner Junge. Sie wusste aber nicht, dass sie ihn weiterhin beeindruckte.
„Ich sollte mit ihm reden.", sagte Anna leise und wollte aufstehen, als Kenshin sich wieder einschaltete.
„Lass ihn sich zuerst beruhigen.", riet Kenshin und setzte sich wieder hin, dabei seufzte er schwer. „Ich habe es befürchtet, dass dies passiert. Ich hätte nie zulassen sollen, das Daichi seinen Vater trifft."
„Nein, es war richtig so.", entgegnete Steven umgehend. „Die Wahrheit tut weh, aber Daichi musste es irgendwann erfahren. Er muss verstehen, warum er bei dir aufwächst und nicht bei seinem Vater, und er musste es am eigenen Leib erfahren."
Kenshin nickte leicht, obwohl es Daichi weh tat. Anna teilte Stevens Meinung und hoffte, dass Kenshin dies auch einsehen würde. Er konnte umhin nicht Rückgängig machen, was geschehen war. Geschehen ist geschehen. Sie versuchten sich wieder auf die Partie Schach zu konzentrieren, doch Anna tat sich schwer, genauso wie Kenshin.
Stevens Handy riss Anna wieder aus der Konzentration, sie beobachtete, wie er aufstand und sich etwas von ihnen entfernte, um das Gespräch anzunehmen. Anna versuchte erneut, sich zu sammeln und ihre Konzentration wiederzufinden.
„Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann.", gestand Kenshin nach einer Weile und sah sie leicht quälend an. „Meine Gedanken sind bei Daichi."
„Meine auch.", gestand Anna ebenfalls. „Wollen wir zu..."
Anna stockte plötzlich mitten im Satz, als ihr Blick auf Steven fiel. Er stand regungslos da, das Handy nicht mehr am Ohr. Seine Kiefer zitterten leicht und sein Blick war auf den Boden gerichtet.
„Steven?", fragte Anna besorgt. „Ist alles in Ordnung?"
Rick und Kenshin sahen nun ebenfalls besorgt zu ihm. Langsam hob Steven den Kopf, sein Blick war gequält und traurig, voller Schmerz.
„Steven?", rief ihm nun Kenshin zu, welcher besorgt zu ihm ging.
„Bors...", sagte Steven leise, aber noch laut genug, dass Anna ihn hören konnte und Anna wurde daraufhin beinahe bleich. Hatte Bors es geschafft zu fliehen? Hatte sie es nicht geschafft ihn zu brechen? Sie sah, wie Steven leer schluckte, bevor er weitersprach.
„Bors ist tot!"
Anna brauchte einige Sekunden zu realisieren, was diese drei Worte für sie bedeuteten und eine unglaubliche Erleichterung durchflutete ihren Körper. Sie war frei. Sie war endgültig frei!

Gefangen im Schatten der Angst - Wieso er?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt