Wunschkind

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Als ich an diesem Morgen vor meinem Spiegel stand, betrachtete ich zum ersten Mal meine riesige Babykugel. Bisher hatte ich nie wirklich hingesehen. Ich wollte dieses Kind nicht. Ich wollte es nicht behalten. Also hatte ich auch gar nicht erst versucht eine Bindung zu ihm aufzubauen.

Heute war mein letzter Schultag. Danach würde ich bis zur Geburt nicht mehr arbeiten. Ich war ziemlich nervös. In der Schule kursierte seit einigen Wochen das Gerücht, dass ich lesbisch oder zumindest bi war. Schuld an dem Gerücht war ich selber. Ich hatte es vor Cenk praktisch zugegeben. Meinen Schülern heute zu erklären, dass ich in Mutterschutz ging, würde sicherlich einige Fragen aufwerfen.
Es war 10 Minuten vor Ende der Stunde. Meine Schüler arbeiteten noch an den Aufgaben, die ich ihnen gegeben hatte. Ich holte mein Handy raus und tippte eine Nachricht an Emilia.
Du kannst gehen, wenn du willst...
Verwundert hob sie ihren Kopf. Als sich unsere Blicke trafen, runzelte sie die Stirn. Dann nickte sie. Sie packte ihre Sachen und stand auf.
"Darf sie einfach gehen?", fragte Cenk, als Emilia fast die Tür erreicht hatte.
Emilia blieb stehen und sah zwischen Cenk und mir hin und her.
"Ja", sagte ich.
"Warum?", fragte er.
"Weil ich es ihr erlaube", sagte ich.
"Dann geh ich auch", sagte Cenk.
"Nö", sagte ich. "Dir hab ich es nicht erlaubt", sagte ich.
Auf Emilias Gesicht zeichnete sich ein Schmunzeln ab. "Tschüss, Frau Yılmaz", sagte sie und zog dann die Tür hinter sich zu.
"Legt mal den Stift hin und hört mir kurz zu", sagte ich.
Ich wartete, bis alle mir ihre Aufmerksamkeit schenkten.
"Vielleicht ist es dem ein oder anderem schon aufgefallen, aber ich bin schwanger. Deshalb ist heute mein letzter Schultag", sagte ich.
"Sie sind schwanger? Ich dachte, sie sind lesbisch?", fragte Cenk.
Innerlich stöhnte ich. Diese Frage hatte ich erwartet. Trotzdem wollte ich sie nicht beantworten.
"Ich bevorzuge beide Geschlechter", sagte ich.
"Führen Sie eine Beziehung zu dritt?", fragte mich Lisa.
Ich konnte nicht verhindern, dass ich auflachte. Manchmal war mein Abiturjahrgang echt noch naiv.
"Ich meinte, dass ich mich in Frauen und Männer verlieben kann", sagte ich.
"Haben Sie einen Mann?", fragte Lisa.
"Nein, ich bin Single", sagte ich. Leider war das die traurige Wahrheit.
Plötzlich war es totenstill im Klassenzimmer. Was sollte ich jetzt bloß sagen? Dass es mir gut ging? Das tat es nicht. Ich vermisste Emilia. Aber das konnte ich unmöglich sagen. Dass alles gut werden würde? Daran glaubte ich nicht. Vermutlich war ich einfach nicht dafür bestimmt glücklich zu werden.
„Kommen Sie uns mal besuchen?", fragte Lisa.
„Natürlich", versprach. Erst als ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich meinen Fehler. Ich würde sie nie mit meinem Kind nie besuchen kommen, weil ich es nicht behalten würde. Aber ich konnte es jetzt auch schlecht wieder zurücknehmen.
Dann klingelte es. Meine Schüler strömten nach draußen und hinterließen eine enorme Stille. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und ließ meinen Blick über die leeren Reihen wandern. Am Montag würde ich zu Hause sitzen und eine Vertretungslehrerin würde meinen Unterricht übernehmen. Das war ein komisches Gefühl. Ich liebte es zu unterrichten.
Ich seufzte. Aber ich würde bald wiederkommen und meinen Abschlussjahrgang bis zum Abitur begleiten.
Ich packte meine Sachen zusammen und dann machte ich mich auf den Heimweg.

Zu Hause ließ ich mich erstmal auf mein Sofa fallen. Heute musste ich keinen Unterricht mehr vorbereiten oder irgendwelche Klausuren korrigieren. Doch dann machte sich Langeweile in mir breit. Was sollte ich nun den ganzen Tag machen?
Plötzlich merkte ich ein heftiges Ziehen im Bauch. Ich wusste sofort, was es war. Die Wehen. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte es nicht bekommen. Ich wollte nicht mit der Realität konfrontiert werden.
Alles, was danach passierte, lief wie ein Schleier an mir vorbei. Ich wählte wie in Trance die Nummer vom Notarzt. Ich bekam nicht mit, wie ich ins Krankenhaus gebracht wurde und wie mich dort eine Ärztin untersuchte.

Irgendwann erwachte ich wieder aus meiner Trance. Ich spürte etwas Warmes in meinen Armen. Als ich an mir heruntersah, bemerkte ich, dass ich in einem Krankenhausbett lag. In meinem Arm lag ein kleines Baby.
„Nehmen Sie es weg!", schrie ich sofort.
„Das ist Ihre Tochter", sagte die Ärztin ruhig.
„Nehmen Sie sie weg! Ich will Sie nicht!", schrie ich.
Sofort verschwand das Baby wieder aus meinen Armen. Ich atmete erleichtert aus.
Die Ärztin setzte sich neben mich ans Bett. „Frau Yılmaz, Ihre Tochter braucht Sie. Es wäre gut, wenn Sie den Körperkontakt zu Ihnen spürt", sagte sie.
Ich schüttelte sofort meinen Kopf. „Ich will sie nicht", sagte ich.
Die Ärztin redete noch eine ganze Weile auf mich ein. Aber ich schüttelte nur unentwegt meinen Kopf. Ich konnte das nicht. Ich war nicht gut für sie. Ich war für niemanden gut. Sie war besser ohne mich dran. Sie sollte sich auch besser gar nicht erst an mich gewöhnen. Und ich mich auch nicht an sie. Das würde es nur schwerer machen sie abzugeben.
Irgendwann gab die Ärztin auf. Sie verschwand und ließ mich mit dem Baby alleine zurück. Das Baby, das wie am Spieß schrie und mir beinahe das Trommelfell platzen ließ. Ich war müde und ausgelaugt und ich konnte nicht einschlafen, weil mir dieses Baby den letzten Nerv raubte. Die Tränen liefen mir über die Wangen.

Die Tür ging auf und Caro kam herein. Sie kam sofort auf mich zu und gab mir ein Küsschen. Dann nahm sie das Baby aus ihrem Bettchen und wiegte sie in ihren Armen, bis sie schließlich aufhörte zu schreien und einschlief. Caro legte sie zurück in ihr Bett und setzte sich dann zu mir.
„Leyla, du hast eine Tochter bekommen. Sie braucht dich", sagte Caro.
Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich kann das nicht", flüsterte ich.
„Du musst. Du hast ein großes Herz und du hast viel Liebe zu geben. Willst du wirklich, dass sie das gleiche durchmachen muss wie du? Willst du, dass sie ohne Liebe aufwachsen muss? Ohne ihre Familie? Willst du, dass sie irgendwann herausfindet, dass sie adoptiert wurde und sich dann verlassen und abgewiesen fühlt? Willst du ihr das antun?", fragte Caro.
Entsetzt sah ich sie an. Natürlich wollte ich nicht, dass es ihr so ging. Bisher hatte ich nicht daran gedacht.
„Sie ist ein süßes Baby", flüsterte Caro.
Ich schloss die Augen. Ich wusste nicht, ob ich das konnte. Vielleicht würde ich ihr mehr schaden, wenn ich sie behielt.
„Sie braucht ihre Mama", flüsterte Caro.
Und dann nickte ich.
Caro nahm meine Tochter aus ihrem Bettchen und legte sie mir dann ganz vorsichtig in die Arme.
Ich öffnete meine Augen und sah meine Tochter zum ersten Mal an. „Sie ist so wunderschön", flüsterte ich.
„Sie hat deine Augen", sagte Caro und gab mir ein Küsschen auf den Scheitel.
„Ich sollte sie behalten", sagte ich und sah Caro an.
„Das solltest du", sagte sie.
„Wann immer du Hilfe brauchst, ich bin da. Du bist nicht alleine", sagte Caro.
„Danke", sagte ich.
„Hast du einen Namen?", fragte Caro.
„Lia", antwortete ich sofort.
Caro grinste wissend. „Du kommst nicht von ihr los, oder?", fragte sie.
„Sie oder Keine", sagte ich.

What happens in Vegas, stays in VegasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt