Kapitel 15

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21.November.2026

Die Aufzugstür öffnete sich. Justin, sein Vater und unsere Freunde stiegen aus. Justin sah blass aus. Seine sonst goldene Haut sah fast so blass aus wie meine elfenbeinfarbene Haut. Er hatte Augenringe und sah müde aus. Sein Alkoholentzug ließ ihn so aussehen. Ich stand immer noch mit Diana auf der anderen Seite des Raumes. Dort zu stehen, bot mir zwei Fluchtwege, falls nötig.
A – der Balkon hinter mir über denn ich ins Treppenhaus gelange und
B – die Küche, die zur Treppe führte.
Wir waren zwar 40 Stockwerke hoch, aber ich dachte trotzdem, ich würde diese Treppe hinuntergehen, wenn mir alles zu viel werden würde. Justin sah mich mit seinen traurigen Augen an. Taylor und Diana grüßten sich. Mason und Mel kamen herüber und grüßten mich, als Mason mir sagte, dass Christian nicht kommen konnte. Ich war froh, sie zu sehen, aber ich konnte es nicht ausdrücken, meine Augen waren die ganze Zeit auf Justin gerichtet. Er formte mit den Lippen „Es tut mir leid" und setzte sich auf die Couch. Diana setzte sich zuerst zu ihm und redete, nur Smalltalk, aber als ich seine Stimme hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken. „Ich hoffe, du weißt, wenn du irgendetwas mit ihr oder Brady versuchst, werde ich dich für 24 Stunden festnehmen." Drohte Diana ihm mit der am freundlich klingenden Stimme die ich je gehört hatte. Justin nickte. Lurdes und Brady kamen aus der Küche. Justins Augen füllten sich mit Tränen, als er seinen Sohn sah. „Gott, er ist so groß geworden", sagte Justin, seine Stimme brach fast, so sehr zitterte sie. Brady erkannte ihn sofort und rannte zu ihm. Es brach mir das Herz. Als Justin ihn hochhob, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er hielt ihn dicht an sein Gesicht und küsste seine Schläfe. Meine Augen waren verschwommen von Tränen. Wieder einmal wurde ich daran erinnert, wie viel wir durchgemacht haben. Die guten und die schlechten Seiten. Ich hatte das Gefühl, in diesem Moment alles erneut zu durchleben. Ich bemerkte nicht einmal, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen. Justin setzte Brady auf seinen Schoß ab, als er sich wieder setzte. Mel nahm meine Hand und wir gingen nach oben. Sie war noch nie in New York gewesen, auch nicht bei mir zu Hause, aber sie ging direkt in mein Zimmer, als wäre sie schon mehrmals hier gewesen. Wir setzten uns in mein Bett. „Wie fühlst du dich, Cate?" Mel war einer der wenigen Menschen in meinem Leben, die zuerst meine Fehler kennenlernte, bevor sie den Rest von mir kennenlernte.
Es war nicht einmal ein Monat vergangen, nachdem wir nach San Francisco gezogen waren, als ich unerwartet Brady bekam. Während der Schwangerschaft entwickelte ich eine sogenannte Stille Schwangerschaft. Ein medizinisches Phänomen, bei dem schwangere Frauen schwanger sind, ohne es zu wissen. Gravitas suppressalis, wie Taylor immer sagte. Damals, am 4. August 2023, brachte ich meinen Sohn in unserer Badewanne zur Welt. Meine Eltern waren wieder einmal nicht da, als es passierte. Harper, Mels Mutter, durchtrennte die Nabelschnur und brachte mich und Justin ins Krankenhaus. Brady war ein Frühchen. Er kam im sechsten Monat zur Welt. Er war nur 30 cm lang und wog etwa 700g. Die Ärzte gingen damals davon aus, dass seine Überlebenschancen gering waren und er sein ganzes Leben lang unsere Pflege brauchen würde.
„Cate?" Mel wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht. „Entschuldige. Was hast du gesagt?" Mel legte ihre Arme um mich. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schultern und sah. „Wie fühlst du dich?", flüsterte sie. „Ich weiß nicht. Ihn wiederzusehen, bringt alle Erinnerungen zurück. Gute und schlechte. Wenn ich ihm in die Augen schaue, sehe ich den Kerl, in den ich mich verliebt habe und der mich so schlimm verprügelt hat." Mel rieb mir den Rücken und hielt mich eine Weile. Von ihr gehalten zu werden, half immer. Sie war neben Stella und Evie eine meiner engsten Freundinnen. Ich nannte sie manchmal meinen Zwilling. Wir wurden beide am 12. Oktober 2007 geboren. Und die Tatsache, dass unsere Mütter auch am selben Tag geboren wurden, machte das noch besser. Mom und Harper waren beide zusammen in Kanada aufgewachsen und sie waren während der Grundschule und der Mittelschule befreundet. Dann zogen meine Großeltern von Montreal nach Vancouver. Danach verloren sie den Kontakt. Als wir nach San Francisco zogen, bestand Mom darauf, in einem Café vorbeizuschauen. Harper's Café. Mom war so glücklich, dass sie ihre Freundin aus Kindertagen wiedersehen konnte, und Harper auch. Sie verbrachten fast jeden Tag zusammen.
Justin und ich waren damals glücklich. Glücklich, bis er ein Paket von einem unbekannten Absender bekam. Ein Video, das zeigte, wie mein wehrloser Körper vergewaltigt wurde. Und weil ich mich nicht wehrte, nahm Justin an, dass ich ihn betrogen hatte, und machte mit mir Schluss. Brady war damals erst zwei Wochen alt und ich hatte in den letzten sechs Monaten niemandem erzählt, was mit mir passiert war.
„Mel?" Mel ließ mich los und sah mich mit ihren hellblauen Augen an. Sie streichelte sanft meine Wangen. „Ich bin immer hier. Egal, wie weit wir voneinander entfernt sind, du wirst immer meine beste Freundin sein", sagte sie, als ich mich in ihre Berührung lehnte. „Ich liebe dich, Mel. Ich weiß nicht, wie ich eine Freundin wie dich verdiene." Sie zog mich wieder in ihre Arme und wir saßen eine Weile umarmend auf meinem Bett.„Du bist meine beste Freundin, Cate, du warst meine erste Freundin und ich bin so dankbar, dich zu haben. Du und ich werden immer Freunde sein, auch wenn wir am anderen Ende des Landes Leben, selbst auf anderen Planeten."Mel hatte eine wunderschöne Seele. Sicher, sie konnte ziemlich verrückt sein und sie war auch irgendwie mit ihrem Stiefbruder zusammen, aber das machte sie nicht zu einer schlechten Person. Ihre Mutter war mit Lukas McAllister zusammen, dem Vater von Christian und Mason. Die beiden Erwachsenen hörten auf, miteinander auszugehen, nachdem sie herausfanden, dass ihre Kinder sich mochten. Aber Christian bat sie, es trotzdem zu versuchen. Beide waren endlich glücklich und sollten einen Teenager. Ihre Romanze hat sie auseinandergetrieben. Jetzt sind beide Paare seit vier Jahren zusammen und glücklicher denn je. Wir gingen nach unten und ich sah Brady und Justin zusammen spielen. Brady schien glücklich seinen Vater wieder zu haben. Justins Gesicht sah sogar ein wenig heller aus, die Blässe war fast verschwunden. Taylor behielt seinen Sohn genau im Auge. Diana saß neben Justin und sprach mit ihm, während dieser mit unserem Sohn spielte. Mason hingegen saß am anderen Ende des Raumes um und aß Weintrauben. Dieser Anblick brachte mich zum Lächeln. Er war immer noch derselbe Typ, den ich vor vier Jahren kennengelernt hatte. Derjenige, der im Hintergrund bleibt, aber immer weiß, was los ist. Derjenige, der von außen beobachtet und weiß, wie man mit einer Situation umgeht. Derjenige, der seinen Freunden Raum gibt, damit sie reden können. Als sich unsere Blicke trafen, zwinkerte er mir zu und ich lächelte ihn an. Ich war froh, dass Mel so einen tollen Freund hatte. Ich setzte mich Justin und Diana gegenüber. Als Brady mich sah, sprang er mir in die Arme. Justin lächelte schüchtern. „Hat es dir Spaß gemacht, mit deinem Vater zu spielen?" Brady nickte glücklich und umarmte mich. Er vergrub seinen Kopf an meiner Brust. „Cate, es tut mir wirklich leid." Justins Stimme war sanft und ruhig. Er steckte seine Hand in die Tasche und zog eine Münze heraus. Es war sein 1-Monats-AA-Chip. „Ich gebe mir wirklich Mühe. Für Brady, dich und mich." Er schniefte. Ich war froh, dass er Hilfe hatte und dass er es für sich und seinen Sohn tat. Ich sah den Jungen, in den ich mich vor all den Jahren verliebt hatte. Dieser Justin, der auf der Couch saß, war weder gewalttätig noch schrie er. Er war nicht im Reinen mit sich, aber er war auf dem richtigen Weg. Dem Weg zur Genesung. Wir verbrachten den Nachmittag damit, mit Brady zu spielen und zu reden. Meistens redeten Diana und Taylor, während Justin und ich Blicke austauschten, sie sprachen über uns, als wären wir nicht da. Ich hasste es, wollte aber nichts sagen. Ich sah den Schmerz in Justins Augen und trotz allem, was passiert war, tat er mir leid. Sein eigener Vater sprach so schlecht über ihn und übernahm keine Verantwortung für Justins früheres Verhalten. Wir beide wussten, wie es ist, beschissene Eltern zu haben. Taylor arbeitete, genau wie mein Vater, immer und war selten zuhause. Aber niemand beschwerte sich über ihn, schließlich rettete er Leben. Justin hatte immer Probleme. Sein Mangel an Selbstkontrolle über seine Emotionen war charakteristisch für ihn. Er war sehr empfindlich gegenüber  seinen Emotionen. Jedesmal wenn sein Vater ihn einen Versager nannte, brach es ihn. Sein Blick schwelgte dabei immer wieder zum Bareagen meines Vaters. Der Drang in seinen Augen war stark, Justin hielt den Atem an und biss die Zähne zusammen. Ich ging zu ihm hinüber und streckte meine Hand aus, als ob die Vergangenheit keine Rolle mehr spielte. Und in diesem Moment spielte sie keine Rolle mehr. Justin hatte niemanden außer seinem Bruder und seinem Vater. Beide waren damit beschäftigt anderen das Leben retten zu wollen. Taylor der Chef eines Krankenhauses in San Francisco und Jason, sein Bruder, ein Medizinstudent hier in New York. Justins Augen leuchteten auf und er sah mich verwirrt an. „Ich weiß a was du denkst, also lass uns etwas tun, um dich abzulenken." Ich stand auf und führte ihn zum Klavier. „Du vertraust mir?", fragte er, als wir uns zusammensetzten. „Das tue ich nicht, aber ich weiß, dass du mir nicht wehtun wirst. Das hast du nie getan, wenn du nüchtern warst." Ich begann, Klavier zu spielen und zu singen.

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