Ich weiß nicht, ob ich schon tot bin ⚠️

184 24 126
                                    

(Nächstes Kapitel bei 20 Votes und über 100 Kommentaren)

POV Inéz

Meine Arme sind gefesselt.
Ares Arme sind gefesselt.
Wir stehen schon so lange auf dem feuchten, modrigen Steg, dass unsere Füße schon bald mit ihm verwachsen sind. Ich spüre meine Gliedmaßen nicht mehr, sie stehen unter Schock und die eisige Kälte setzt sich wie eine fahle Decke auf meiner Haut ab.

Hätte ich jetzt einen Spiegel und würde ich stark genug sein meinen geschändigten Körper anzusehen, würde ich violett angelaufenen Lippen, ausgefallenen Haarsträhnen und einem vernarbten Gesamtbild begegnen.

Er hat mich wie eine Puppe bei ihm festgehalten. Waren ihm meine Haare zu lang, schnitt er sie ab, hatte er ein Messer in seiner Nähe, schnitzte er gern an mir herum, wie an einem Stück Holz. Damals als ich noch ein kleines Kind war, lief ich gern durch den Wald, immer wenn Vater seine Freunde besuchen ging, spazierte ich umher bis ich einen schönen Ast fand und bearbeitete ihn mit meinem Taschenmesser. Erfreute mich an meinem Werk und brachte ihn nie mit nach Hause, damit Vater nichts von meinem Fehlen bemerkte.

Ich ließ dieses Stück Holz zurück, warf es irgendwo in das nächste Gebüsch und mir gefiel der Gedanke, dass ihn einmal jemand finden würde und sich dann fragt wer wohl diese Eingravierungen geschnitzt hat und was sie alles bedeuten könnten. Das hätte ja eine Art Geheimschrift sein können, die eine streng verbotene Botschaft verschleiern sollte.  Wenn jedoch Ares mich wegwirft, hier in den See und meine Leiche gefunden wird, dann werden die Menschen sich nicht fragen was meine Schnittwunden bedeuten könnten, sie werden es dann wissen.

Sie werden dann alles wissen.
Und zu spät bemerken, dass keiner mir rechtzeitig geholfen hat.

Reue würde ihnen aufkommen, sie werden sich fragen, wieso sie nicht früher eingeschritten sind, sie werden vor allem aber ihre Gleichgültigkeit nicht vergessen können, denn sie sahen weder mich, noch meinen Vater, monatelang hinweg lebten sie in ihrer eigenen Blase, ohne an das Schicksal anderer zu denken.

Ob sie es nun bereuen werden oder nicht, am Ende ist es egal, denn dann bin ich tot.

~

Nicht einmal meine Mutter würde mich in diesem Zustand wieder erkennen. War das einst ihre kleine Tochter, die gern in die Kirche ging? Jetzt ist sie dem Grab näher, als den schönen Zeremonien oder Gottesdiensten, in denen sie immer gern mitsang und für ein paar Momente ihre Sorgen in den Zeilen der Lieder vergaß. Die kleine Inéz, die barfuß durch das Mohnblumenfeld rannte, jetzt barfuß in den modrigen Steg einsinkt, bis sie gänzlich zerfließt. Das ahnungslose Mädchen, das von schönen, zuvorkommenden Prinzen träumte und nun nichts als Enttäuschung entgegenblickt. Es war damals schon nicht leicht, aber dass ich einmal so enden würde, hatte ich mir nicht einmal vorgestellt, als ich am schlimmsten Tag meines Lebens von Mutters Tod erfuhr.

Bin ich ein schlechter Mensch? Denn nach all dem, kann ich mir nichts Gutes mehr vorstellen. Es bringt mich dazu, verzweifelt zu denken, schwarz zu sehen, mich im Dunkeln entlang zu tasten ohne auf Lichtstrahlen zu hoffen, die mir irgendwann wieder ein warmes Gefühl hinterlassen. Ich will fähig sein Seth zu lieben, so wie er es verdient, so sehr wie er mich hindurch unserer Distanz geliebt hat, ich weiß dass ich ihn liebe, aber ich fühle es gerade nicht. Es tut so weh, weil ich rein gar nichts mehr fühlen kann.

Ich kenne das nicht und es macht mir ungeheure Angst. Es macht mir sogar so sehr Angst, dass ich den Tod als Erlösung entgegenblicke und dafür selbst auf ein gemeinsames Leben mit Seth verzichten würde. Einfach um das alles nicht mehr zu ertragen, die Gedanken hören nicht auf, es ist eine ständige Folter. Bin ich nicht schon zu kaputt, als dass ich Seth noch im entferntesten glücklich machen könnte?

Das wäre kein Leben, zumindest nicht mehr, seit ich den Tod in Erwägung gezogen habe.

~

Ich weiß nicht einmal, wieso Ares sich das selbst antut. Sterben wollen, sich selbst fesseln. Ein Zeichen der Empathie wird es wohl kaum sein, aber vielleicht denkt er, ihm wird dadurch die ein oder andere Sünde vergolten. Es muss ja solidarisch sein, ein unschuldiges Mädchen auf dem Weg ins Jenseits zu begleiten.

Ich habe mich schon immer gefragt, was nach dem Tod auf einen wartet. Darauf hatte noch nie einer eine klare Antwort. Es könnte die Hölle geben oder aber es ist einfach alles schwarz, nicht existent. Vielleicht ist einfach alles friedlich ausgelöscht, sobald der letzte Atemzug vollbracht ist. Man erinnert sich nicht, weder denkt oder fühlt man, es ist einfach nie da gewesen. Mich beruhigt der Gedanke, auch wenn ich gern wüsste, ob ich auch nur den Hauch einer Chance hätte, ins Paradies zu gelangen.

Während Ares Blick panisch umherblickt und über bewegende Schatten spricht, die mich ihm wegnehmen wollen, versuche ich seine Gegenwart wegzudenken und mir mein persönliches Paradies vor die Augen zu rufen.

Die Dunkelheit lichtet sich und kleine bunte Blütenblätter fliegen fröhlich umher. Es riecht so wunderbar nach Heimat, nach Zuflucht.

Die Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Sie sind so warm und hinterlassen ein angenehmes Gefühl auf meiner Haut. Die Sträucher um mich herum schwingen im Takt des Windes, die warme Sommerbrise zieht mich in ihren Bann. Vielleicht liege ich hier seit fünf Minuten, vielleicht auch schon seit Stunden, ich habe das Zeitgefühl völlig verloren. Hier fühle ich mich wohl, so geborgen im Gras, zwischen Sträuchern und wilden Blumen.

Was würde ich nur dafür geben, auf ewig hier zu liegen. Wie gerne würde ich den Platz mit einer dieser Blumen tauschen. Sie müssen nie diesen wundervollen Ort verlassen, auf ewig können sie hier die frische Luft einatmen und den Ausblick genießen, ohne zurück zu müssen in Ares Fängen der Unruhe und des Schmerzes.

Ich träume weiter vor mich hin und beobachte die zwitschernden Vögel, die sich neben mir niederlassen und ein Liebeslied singen, ehe sie sich wieder zu pechschwarzen Krähen zurück verwandeln und die warme Sommerbrise in ein kaltes Loch gesogen wird. Zurück bleibt bloß die Asche der Träume. Gerade noch brannte das Feuer, an dem ich mich in Erinnerungen wärmen konnte.

„Wach auf halbe Französin, sie kommen. Sie wollen dich holen. Spring. Los spring." Ares zischt irreführende Worte, stößt mich immer näher an die Kante des Steges und ich sehe hinter mich, doch keiner ist da, um mich zu holen.

Er sieht Geister.
Erleidet eine Art Psychose, die Wahnvorstellungen bringen ihn um den Verstand und mich in Gefahr. Sein hektisches Atmen prallt in Sekundentakt gegen meinen Nacken und er drückt mich immer weiter nach vorne zum Wasser, meine Füße stehen nicht einmal mehr ganz auf dem Untergrund, als ich mein Gleichgewicht verliere und mich an dem letzten Stück Stoff festhalte, nach dem ich greifen kann. Sein Hemd. Plötzlich fallen wir beide in den eiskalten See und sein Gewicht drückt mich immer weiter hinunter.

Auf einmal geht alles so schnell.

Es ist wie ein Strom, in dem man keine Zeit hat nachzudenken. Immer tiefer sinkt man, in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit. Ich kann nicht mehr atmen, schlucke Wasser. Ares hat sein Schicksal bereits akzeptiert, sinkt immer weiter herunter und lässt nicht von meinem
Körper ab. Er will selbst in so einer Panik Situationen sichergehen, dass ich mit ihm sterbe und es nicht hier raus schaffe. Ich fuchtele herum, versuche meine Beine in Bewegung zu setzen, da meine Arme gefesselt sind und ich merke, wie ich der Wasseroberfläche kein Stück näher komme. So sehr ich auch dagegen ankämpfe, ich helfe mir damit kein bisschen. Die Frustration geht in Panik auf, ich kann nicht mehr. ICH KANN NICHT MEHR. Hilfe. Seth hilf mir bitte, bitte ich kann nicht mehr atmen, ich kann nichts mehr.

Ich sehe die Mondstrahlen ins Wasser fallen, sie verschwimmen vor meinen Augen, ich verbiete mir nach Luft zu ringen, denn hier unten gibt es nichts als den Tod, der mich leise auffindet und wegspülen lässt. Meine Muskeln geben nach, ich keuche mit verschlossenem Mund, mein Brustkorb schmerzt wie tausend Messerstiche, meine Augenlider schließen sich und ich weiß nicht einmal mehr, wo Ares ist. Geschweige denn könnte ich fühlen, ob er mich noch festhält, es ist alles so schrecklich dumpf hier unten. Ich weiß nicht, ob ich schon tot bin.



-> ca. 1.300 Wörter

-> wie fandet ihr das Kapitel?

-> bitte teilt eure Gedanken mit mir.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 27 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Erlöse mich von dem BösenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt