Mamas Fingerknöchel traten weiß hervor. Ihr starrer Blick war ins Leere gerichtet. Auf dem Lenkrad hatten ihre schwitzigen Hände dunkle Abdrücke hinterlassen.
Mit einem Ruck hielt das Auto, als sie scharf auf die Bremse trat. Der Sicherheitsgurt presste mich so stark in den Beifahrersitz zurück, dass mir kurz die Luft wegblieb.
Das Auto kam nur wenige Zentimeter vor dem Ortsschild zum Stehen. Wir schwiegen.
Die Klimaanlage des alten Volvos arbeitete auf Hochtouren, obwohl es erst früher Mittag war. Mit einer langsamen Bewegung setzte Mama den Warnblinker.
"Und du möchtest wirklich nicht mitkommen?", durchbrach ich die Stille.
Sie schüttelte den Kopf.
"Oma und Opa würden sich bestimmt freuen", ergänzte ich.
Keine Antwort.
"Bitte begleite mich doch", bat ich und löste den Sicherheitsgurt. Jeden Sommer versuchte ich, sie aufs Neue zu überreden. Bis jetzt hatte es noch nie geklappt.
Erneut schüttelte Mama den Kopf und umklammerte das Lenkrad noch fester.
Ich seufzte und beugte mich zu ihr hinüber, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. "Bis in drei Wochen, ich grüße Oma und Opa von dir." Sie zeigte keinerlei Reaktion, sondern sah weiterhin geradeaus.
Als ich die Autotür öffnete, kam mir ein Schwall heißer Luft entgegen. Schnell stieg ich aus und zog meinen Koffer von den Rücksitzen. Mein T-Shirt klebte an meinem Rücken und ich fuhr mir durch die lockigen Haare. Hoffentlich hatte Oma die Vorhänge in dem kleinen Zimmer unter dem Dach zugezogen, ansonsten würde ich den Tag in einer Art Sauna verbringen müssen.
Ich winkte Mama zu, die sogar kurz die Hand vom Lenkrad löste, um sie zum Abschied zu heben. Ihr Blick glitt an mir vorbei zu dem bunten Schild: 'Willkommen in Niebrühl'.
Für einen Moment schauten Mama und ich uns in die Augen, doch einen Augenblick später hatte sie schon den Rückwärtsgang eingelegt und war in den nächsten Feldweg eingebogen, um wenden zu können.
Ich wartete, bis das Auto hinter dem Hügel verschwunden war und griff dann mit einem weiteren Seufzen nach meinen Koffer. Die Sonne brannte auf mich hinunter, als ich mich auf den Weg in das 500-Seelen-Dorf machte.
Das Gras am Straßenrand hatte sich bereits von der Hitze der letzten Tage etwas braun gefärbt und knisterte leise, wenn ich darauf trat.
Meine dunklen Haare zogen die Sonnenstrahlen wie magisch an und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie verschwitzt ich sein würde, wenn ich bei dem Haus meiner Großeltern angekommen war. Zudem schien sich das Gewicht meines Koffers mit jedem Meter zu verdoppeln und als ich endlich die ersten Häuser erreichte, war ich bereits aus der Puste.
Die Luft über der Straße flimmerte leicht und ich hielt kurz an, um tief durchzuatmen. Hoffentlich blieb es während der Sommerferien nicht so heiß. Ansonsten würde ich wohl den ganzen Tag im Inneren des Hauses verbringen müssen.
Das ganze Dorf war wie ausgestorben. Ich konnte niemanden erblicken und auch der kleine Lebensmittelladen, die Kneipe und die Metzgerei an der sogenannten Hauptstraße waren geschlossen. Alle Bewohner verkrochen sich vor der Hitze. Viele hatten die Jalousien etwas hinuntergelassen, um die angenehme Kälte im Haus zu halten.
Bis auf vereinzeltes Vogelzwitschern war es still und meine Schritte und das Klappern des Koffers, wenn er beim Ziehen in einem der zahlreichen Schlaglöcher hängen blieb, kamen mir wie kleine Erdbeben vor. Eine solche Ruhe war ich nicht gewohnt. In der Großstadt, in welcher ich schon fast mein ganzes Leben verbracht hatte, war man stets von Geräuschen umgeben. Autos, Stimmen, Bauarbeiten, das Rattern der Straßenbahn. Es gab keine Minute, in der man nichts von all dem hören konnte.
Mit dem Saum des T-Shirts tupfte ich mir den Schweiß von der Stirn und verfluchte den Grund, warum Mama mich nicht bis zu Oma und Opa fahren wollte und ich an ausgerechnet so einem heißen Tag zu Fuß laufen musste.
Als ich endlich das kleine Haus meiner Großeltern erreicht hatte, war mein T-Shirt vom Schweiß durchnässt und meine Haare klebten mir im Nacken. Das Blut in meinen Adern schien zu brodeln, so sehr glühte meine Haut.
Erschöpft drückte ich auf den Klingelknopf. Nichts hatte sich hier im Vergleich zum Vorjahr verändert. Die Hollywoodschaukel auf der Terrasse stand noch am gleichen Platz und sogar die Blumen in den Kübeln neben dem Eingang waren noch die selben. Nur dass sie diesen Sommer traurig die bunten Köpfchen hängen ließen. Lediglich der Keramikfrosch im Blumenbeet war neu. Oder ich hatte ihn das letzte Mal nicht bemerkt.
Da vernahm ich im Inneren des Hauses langsame Schritte, die sich mir näherten. Mein Herz klopfte schneller vor Aufregung. Ich hatte mich schon mehrere Wochen darauf gefreut, endlich meine Großeltern wiederzusehen.
Schon seit ich denken konnte, verbrachte ich die Hälfte der Sommerferien bei ihnen. Und ich konnte stets kaum erwarten, abends mit ihnen auf der Schaukel zu sitzen, selbstgepresste Limonade zu trinken und ihnen etwas unter die Arme zu greifen.
Langsam öffnete sich die dunkle Holztür und der spärliche, graue Haarschopf meines Opas tauchte dahinter auf. Die blaugrauen Augen meines Großvaters funkelten und er zwinkerte mir zu, während ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Er breitete die Arme aus und ich ließ mich hineinfallen, sodass er einen Schritt nach hinten taumelte.
"Da bist du ja endlich, meine Große", meinte er und drückte mich an sich.
"Ich habe mich schon so lange darauf gefreut, euch wiederzusehen", erwiderte ich und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. "Wann haben wir uns das letzte Mal getroffen? Bei meinem sechzehnten Geburtstag im Januar?"
"Gut möglich", antwortete er und ließ mich los, bevor er meinen Koffer ins Haus zog. "Und deine Mutter hast du nicht mitgebracht?"
"Du kennst sie doch", meinte ich knapp, um das Thema nicht weiter vertiefen zu müssen. "Wo ist Oma?"
"In der Küche. Sie backt extra für dich", schmunzelte mein Großvater und strich mir über den Kopf.
Ein herzerwärmendes Gefühl überkam mich und ich fühlte mich für einen Moment unendlich geliebt und beschützt.
Ich durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Tür zur Küche, wo meine Großmutter gerade am Backofen hantierte. Sie hatte mir den Rücken zugewandt und schien mich nicht bemerkt zu haben. Im Radio lief gerade lautstark ein Schlager und es wunderte mich nicht, dass sie mich nicht hatte kommen hören.
"Oma, ich bin da!", rief ich, um die Musik zu übertönen und fiel ihr um den Hals, obwohl sie sich noch nicht vollständig herumgedreht hatte. Ihre hellgrauen Haare rochen nach Shampoo und ihre Haut verströmte einen leichten Duft nach dem Rosenparfum, das sie täglich trug und mir seit meiner Kindheit vertraut war.
"Isabelle, schön, dass du uns wieder besuchst", begrüßte sie mich und lachte. Dann löste sie sich aus meiner Umarmung und musterte mich von Kopf bis Fuß. "Du bist aber groß geworden. Oder kommt mir das nur so vor, weil ich eher geschrumpft bin?" Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und kleine Lachfältchen bildeten sich um ihre tiefblauen Augen.
"Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es ja die Kombination." Frech zwinkerte ich ihr zu und meine Oma klopfte mir auf die Schulter.
"Das wird es wohl sein", erwiderte sie und deutete auf den Backofen. "Schau mal, den habe ich für dich gemacht."
Beim Anblick von Omas berühmtem Apfel-Zimt-Kuchen lief mir augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. "Danke, hoffentlich schmeckt er genauso gut wie letztes Jahr."
"Das Rezept hat sich jedenfalls nicht verändert", antwortete sie und schaute mich ernst an. "Deine Mutter ist nicht mitgekommen, oder?"
"Ach, Oma", seufzte ich und schüttelte den Kopf. "Du kennst sie ja. Was sie ein Mal geschworen hat, das hält sie auch."
Meine Großmutter strich mir sanft über den Rücken. "Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie irgendwann in diesem Raum stehen wird."
"Hast du die Vorhänge in der obersten Etage alle zugezogen? Ansonsten werde ich dort vor Hitze zerfließen", wechselte ich das Thema. Über Mama würden wir in den kommenden Tagen sowieso noch genug reden. Und das, obwohl sich seit Jahren nichts mehr geändert hatte. Wenn meine Mutter einen Entschluss gefasst hatte, dann konnte man sie nicht mehr dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern.
"Natürlich, Liebes", antwortete Oma und streifte sich ein Paar Ofenhandschuhe über die schmalen Hände. "Tut mir Leid, aber ich muss mich jetzt ums Essen kümmern. Den Weg nach oben findest du auch alleine. Falls du Hilfe mit deinem Koffer brauchst, sag Opa Bescheid."
"Alles klar." Ich lächelte ihr zu und sog den verführerischen Duft nach frisch gebackenem Kuchen ein, als sie ihn aus dem Ofen zog. Jedes Mal, wenn sie buk, erfassten mich Kindheitserinnerungen, wie ich den Teig knetete und ausrollte oder ihn belegte. Kuchen gehörte zu meinem jährlichen Besuch in den Sommerferien dazu wie der Schnee zum Winter.
Mein Großvater saß im Wohnzimmer in dem großen Ohrensessel und las in einer Zeitung. "Brauchst du Hilfe?", fragte er, ohne aufzusehen.
"Nein, danke", lehnte ich ab. Nachdem ich in der prallen Mittagssonne das ganze Dorf durchquert hatte, waren die wenigen Treppenstufen nur noch ein Klacks dagegen.
Auf dem Dachboden angekommen, musste ich mich allerdings zuerst setzen. Obwohl Oma die Vorhänge zugezogen hatte, herrschten hier oben subtropische Temperaturen. Schon wieder bildeten sich Schweißperlen auf meiner Stirn und ich versuchte, ruhig zu atmen.
Nichts hatte sich hier verändert. Nur der Bettbezug. Über dem Kopfkissen hing noch immer das gleiche Bild. Sofort schlug mein Herz schneller und ich schluckte.
Schnell sah ich wieder weg. Zwar hatte ich manchmal schon stundenlang in dem Bett gelegen und dabei das Bild betrachtet, jedoch bekam ich dabei noch immer Herzklopfen. Es übte jedes Mal aufs Neue eine eigenartige Faszination auf mich aus.
Ein paar Minuten saß ich still da und dachte über alles nach, bis sich die angelehnte Tür etwas öffnete und Apollo hineinglitt. Nachdem der Kater einen großen Sprung auf mein Bett gemacht und sich neben mir zusammengerollt hatte, begann er, lautstark zu schnurren. Seine Schnurrhaare zuckten und sein schwarzes Fell glänzte im schwachen Licht, das noch durch die Vorhänge dringen konnte.
Belustigt schmunzelte ich und kraulte ihn am Hals. Wie sehr hatte ich auch ihn vermisst! Mama erlaubte es mir nicht, ein Haustier in unserer Wohnung zu halten und so genoss ich es stets, wenn sich Apollo ab und an zu mir gesellte.
Als dieser merkte, dass ich die Streicheleinheit nach kurzer Zeit beendete, erhob er sich wieder und verschwand aus dem Raum.
"Isabelle, möchtest du schon Kuchen essen?", hörte ich meine Oma von unten rufen.
Wie auf Knopfdruck fing mein Magen an, zu knurren. "Gerne", antwortete ich deshalb und schon beim bloßen Gedanken an die Backkünste meiner Großmutter lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mama hatte Omas Küchentalent nicht einmal ansatzweise geerbt und ich konnte mich jedes Mal glücklich schätzen, wenn sie einen Rührkuchen zustande brachte, der nicht staubtrocken oder beim Backen schon etwas schwarz geworden war.
Im Esszimmer hatte meine Großmutter bereits den Tisch gedeckt und Apollo hatte es sich auf dem Teppich daneben gemütlich gemacht. Die ganze Luft war mit dem Duft des Kuchens erfüllt.
Ich setzte mich und mein Blick fiel auf den alten Fotokalender an der Wand. Man hatte ihn schon seit über sechzehn Jahren nicht mehr umgeblättert. Als wäre die Zeit seitdem stehen geblieben.
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Lavendelblütenmord
Mystery / ThrillerWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...