Kapitel 15

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Die Röte schoss mir ins Gesicht und ich senkte meinen Kopf noch weiter, fast als wolle ich mich vor ihm verstecken. Gewissermaßen wollte ich das ja auch.
"Hallo, Isabelle", meinte er und begrüßte meinen Opa, in dem er ihm die Hand schüttelte.
Ich murmelte etwas Unverständliches, was wohl eine Erwiderung seines Grußes sein sollte. Zu meinem Leid hatte ich die Suppe nun ganz aufgegessen und hatte somit keinen Grund mehr, mich über den Teller zu beugen und den Tisch anzustarren.
Langsam schaute ich auf und hoffte, dass man mir die Tränen, die ich vorhin vergossen hatte, nicht ansah. Meine Haare konnten mich nun nicht mehr vor Tristans Blicken schützen, zumal sich dieser genau gegenüber von mir gesetzt hatte.
"Möchtest du etwas essen? Es gibt nun noch Reispfanne", bot Oma ihm an, aber Tristan lehnte dankend ab.
"Nein, danke", antwortete er und lächelte mir zu. "Hast du heute schon etwas vor?"
Stumm schüttelte ich den Kopf. Am liebsten hätte ich ihm eine kleine Notlüge aufgetischt, doch auch meine Großeltern schauten mich erwartungsvoll an und ich konnte schlecht ein paar Dinge nennen, die ich unternehmen wollte, nachdem ich ihnen vor wenigen Minuten gesagt hatte, dass ich keine Pläne für den Nachmittag hatte.
"Super! Ich würde gerne noch etwas Zeit mit dir verbringen. Natürlich nur, wenn du Lust dazu hast", fügte er hinzu.
Eigentlich wollte ich im Moment nur meine Ruhe haben und die Wirkung, die die Zeitungsartikel auf mich gehabt hatten, erst einmal verdauen. Dafür brauchte ich Ruhe und niemanden, der an genau den Dingen interessiert war, über die ich gerade nicht reden wollte.
"Gerne", gab ich trotzdem zurück und räusperte mich, weil meine Stimme so piepsig klang. Wollte Tristan mehr über Yasmin erfahren? Wenn ja, wäre das im Moment definitiv der falsche Zeitpunkt. Jetzt könnte ich wirklich ein bisschen Ablenkung gebrauchen.
Und niemanden, der mich mit unangenehmen Fragen löcherte.
Ich ließ die Schultern hängen und wartete schweigend, bis Oma die Reispfanne aus der Küche geholt und jedem eine große Portion auf den Teller getan hatte. Mein Appetit war jedoch seit Tristans Auftauchen um Einiges geschrumpft und so stocherte ich mit der Gabel in dem Reis herum, als wolle ich einzelne Körner aufspießen.
"Was möchtet ihr denn unternehmen?", erkundigte Oma sich.
"Das wird eine Überraschung", antwortete Tristan und ich schaute kurz auf. Er zwinkerte mir zu und ich nahm an, dass das nichts Gutes verheißen konnte. Meine Vermutung, dass er mehr über Yasmin erfahren wollte, wurde immer wahrscheinlicher.
Lustlos malträtierte ich das Essen weiter und bemühte mich dabei, meinen Kopf weiterhin gesenkt zu lassen. Nicht nur, um meine Trauer zu verbergen, sondern auch um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich von seiner Einladung alles andere als begeistert war.
Meine Großeltern begannen, mit Tristan über Dorfangelegenheiten zu sprechen, von denen ich nichts verstand und deshalb nach ein paar Sätzen nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Meine Gedanken schweiften erneut zu Yasmin ab. Würde sie wollen, dass ich Tristan bei seiner Suche nach dem Mörder unterstützte? Oder mir davon abraten, da die Tat wahrscheinlich von einer Person aus dem Dorf begangen worden war und ich mich somit in Gefahr begeben könnte?
Irgendwann schob ich den Teller weg. Zwar hatte ich kaum etwas von dem Reis gegessen, aber ich hatte keinen Hunger mehr. Mit jedem Bissen, den ich zu mir genommen hatte, hatte sich mein Magen schwerer angefühlt und nun lag mir das Essen wie Steine im Bauch. "Bist du fertig?", fragte Tristan und ich nickte kaum merklich. "Dann können wir ja gleich losgehen!"
"Wohin?", erwiderte ich.
"Das wirst du schon noch sehen", meinte er und zwinkerte mir zu.
Nachdem ich meinen Teller in die Küche getragen hatte, folgte ich ihm nach draußen. Die Mittagshitze war kaum auszuhalten und die Luft über der Straße flimmerte. Bei diesen Temperaturen blieb man normalerweise im Haus und tat nichts, was einen zum Schwitzen brachte, doch Tristan schwang sich auf sein Fahrrad und schaute mich erwartungsvoll an.
"Auf was wartest du?" Seine Stimme klang etwas genervt, als ich im Schatten des Hauses stehen blieb und keinerlei Anstalten machte, mich zu bewegen.
"Mein Fahrrad hat einen Platten", erklärte ich und verschränkte die Arme.
Tristan stieg wieder ab. "Dann lass uns noch etwas hier bleiben und warten, bis es nicht mehr so warm ist. Die Zeit bis dahin können wir auch noch sinnvoll nutzen."
Das bedeutete für ihn wahrscheinlich, mich weiter über Yasmin auszuquetschen. Wovon ich alles andere als begeistert war.
Wortlos betrat ich wieder das Haus und führte ihn bis ins Dachgeschoss hinauf. Auf dem Bett lag noch die graue Mappe.
"Ist das dein Zimmer?" Die Frage war überflüssig.
"Zumindest in den Sommerferien, wenn ich hier bin", gab ich zurück und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich neben mich auf den Boden zu setzen. "Du hast mich wirklich neugierig gemacht. Ich würde gerne wissen, um was es sich bei der Überraschung handelt."
Tristan rang mit den Händen. "Eigentlich wollte ich dir von meinen Verdächtigungen erzählen und dann jemanden besuchen, von dem ich denke, dass er der Mörder sein könnte", antwortete er und ich hob die Augenbrauen. "Und ich hätte noch ein paar Fragen, was deine Familie betrifft."
Ich hatte also Recht gehabt. Dies war der eigentliche Grund, warum er hierhergekommen war. Nicht, weil er Zeit mit mir verbringen wollte, sondern nur, weil es ihm darum ging, dadurch seinem Ziel, der Aufklärung des Mordes, ein Stückchen näher zu kommen.
Langsam ließ er sich gegenüber von mir nieder und sein intensiver Blick bohrte sich direkt in meine Augen. Seine Gesichtszüge verhärteten sich etwas und sofort begann ich, mich unwohl zu fühlen. Tristan wirkte plötzlich wie ausgetauscht. Die Gelassenheit, die er soeben beim Mittagessen zu Tage gelegt hatte, war verflogen.
"Was weißt du von der Kindheit und dem späteren Leben deiner Mutter?", fragte er ohne Umschweife.
"Nicht viel", antwortete ich. "Sie redet kaum über das Leben im Dorf, nicht einmal, wenn sie direkt darauf angesprochen wird. Dann tut sie immer so, als hätte sie die Frage überhört und geht nicht darauf ein."
"Hast du auch keine Fotos aus ihrer Jugend?" Er beugte sich weiter zu mir hinüber und stützte seinen Kopf in die Hände. Seine blauen Augen fixierten mich noch immer und eine leichte Gänsehaut bildete sich auf meinem Körper.
"Nein, ich weiß kaum etwas", sagte ich mit fester Stimme. Sobald etwas auch nur im Entferntesten mit dem Dorf zu tun hatte, weigerte sich Mama, darüber zu sprechen. Die einzigen Bilder, die sie mir aus ihrer Kindheit gezeigt hatte, waren Schulfotos gewesen.
"Ich muss so viel wie möglich über die Beziehungen der Leute hier herausfinden. Denn erst dann kann ich die Stimmung im Dorf damals nachempfinden und Personen ausschließen, die nicht als Täter in Frage kommen", meinte er, ohne mich aus den Augen zu lassen.
"Wenn du darüber etwas wissen möchtest, solltest du dich vielleicht bei meinen Großeltern erkundigen. Oder bei deinem Gastvater, schließlich ist er etwa im gleichen Alter wie meine Mutter." Ich schaute weg, doch Tristans Blick lag noch immer auf mir.
"Das ist eine gute Idee. Darauf hätte ich eigentlich selbst kommen müssen", murmelte er schließlich.
"Sobald ich nach Hause komme, werde ich das tun."
Eigentlich läge es an seiner Stelle für mich in der Hand, zuerst einmal jemanden danach zu fragen, dem ich vertraute. Und in Tristans Fall war das sicherlich Uwe, auch wenn dieser nicht sein echter Vater war.
"Wen verdächtigst du eigentlich?", hakte ich nach und schaute ihn wieder an.
Nun trat erneut der abwägende Ausdruck in seine Augen, als müsse er es sich erst noch durch den Kopf gehen lassen, ob er mir seine Vermutungen tatsächlich verraten sollte. Er presste die Lippen aufeinander und legte den Kopf schief, sodass ihm ein paar Haare ins Gesicht fielen und sein rechtes Auge verdeckten.
"Im Moment habe ich keine sehr konkreten Vorstellungen, weil ich die damalige Situation kaum einschätzen kann. Alles, was ich weiß, hat mir Christel erzählt und bei einigen Dingen bin ich mir nicht sicher, ob ich ihnen Glauben schenken soll", erwiderte er und seufzte. "Manchmal merke ich es, wenn sie das Blaue vom Himmel herunterlügt, aber sie ergänzt die Ereignisse von Zeit zu Zeit um ein paar winzige Details. Ein paar davon konnte ich zwar anhand der Zeitungsberichte widerlegen, aber vom Rest kann ich nicht sagen, ob sie tatsächlich stimmen. Und oft ist es nur ein Wort, das der Situation gleich eine ganz andere Bedeutung gibt."
Zustimmend nickte ich. Genau so erging es mir auch, wenn Christel mich in ein ausführliches Gespräch verwickelte. Doch mittlerweile meinte ich, langsam ein Gespür dafür bekommen zu haben, wann sie etwas hinzudichtete oder frei erfand. Auch wenn ich mir nie zu hundert Prozent sicher sein konnte.
"Kenne ich", kommentierte ich und verdrehte die Augen. "An einigen Tagen hat sie wirklich eine blühende Fantasie. Mit ihren vielen Erfindungen könnte sie bestimmt Bücher füllen!"
Tristan seufzte. "Dann kannst du ja nun bestimmt verstehen, dass ich so viel wie möglich aus zuverlässigen Quellen erfahren möchte, um die Informationen mit denen abzugleichen, die Christel mir gegeben hat."
"Absolut", erwiderte ich. "Und wen hast du im Moment im Auge?"
"Meinst du damit, wen ich verdächtige?", entgegnete er.
"Sozusagen." Ich zuckte mit den Schultern und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Meiner Meinung nach war er nun an der Reihe, etwas seines Wissens preiszugeben.
"Es gibt einige Leute, aber irgendwie werde ich nie wirklich schlau daraus. Mit jedem Puzzleteil wird alles komplizierter und ich habe das Gefühl, dass ich auf der Stelle trete. Rein theoretisch hätten viele Menschen ein Motiv, doch es gibt immer etwas, was mich daran hindert, sie in den engeren Kreis der Verdächtigen aufzunehmen", erklärte er und blies die Backen auf. "Manchmal ist es nur eine winzige Unstimmigkeit, aber das reicht schon, um alles erneut hinterfragen zu müssen."
Unruhig rutschte ich hin und her. Damit konnte ich nicht viel anfangen, ich wollte Namen. "Wer denn zum Beispiel?"
Tristan fuhr sich mit der Hand durch die Haare und bedachte mich wieder mit einem nachdenklichen Blick. Irgendwie schien er mir noch immer nicht voll und ganz zu vertrauen. Und das, obwohl es um meine eigene Schwester ging. "Eigentlich wollte ich dir die Person zeigen", antwortete er schließlich und nestelte nervös an den Taschen seiner Jeans herum.
Ich musste mich zusammenreißen, um ihm nicht vor Ungeduld an die Gurgel zu springen und den Namen aus seiner Kehle hinauszupressen. "Sag schon", brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Doch wie üblich ließ er sich Zeit und musterte mich wie ein Auktionsobjekt, dessen Preis er schätzen müsse. Dann hielt er kurz die Luft an, als lausche er, ob meine Großeltern in der Nähe waren. "Ich bin mir nicht sicher, ob du ihn kennst", meinte er mit leiser Stimme und sein Blick huschte im Zimmer umher. "Er besitzt eine Werkstatt etwas außerhalb des Dorfes und heißt David."

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