"Und was macht dich so sicher, dass der Mörder noch hier ist? Vielleicht ist er längst über alle Berge", hinterfragte ich seine Aussage.
"Gut möglich. Aber in den letzten Jahren ist kaum jemand weggezogen. Das wäre nach einem solchen Mord wahrscheinlich auch sehr verdächtig", erwiderte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Was ist, wenn der Mörder schon gestorben ist?", forschte ich weiter und Tristan verdrehte die Augen.
"Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht besonders hoch. Möglich ist es, da kann ich dir nicht widersprechen. Aber ich glaube kaum, dass jemanden im hohen Alter plötzlich das Bedürfnis überkommt, eine Achtjährige zu töten. Ungefähr achtzig Prozent aller, die in den letzten sechzehn Jahren gestorben sind, waren über Achtzig."
"Woher willst du das denn wissen?"
"Ich kann doch wohl Grabsteine lesen", erwiderte er und runzelte die Stirn.
Ungläubig schaute ich ihn an. Bis jetzt war er mir relativ normal erschienen, von seinen starren Blicken einmal abgesehen. Doch wer besuchte in seiner Freizeit schon den Dorffriedhof und rechnete die Lebensdaten derjenigen aus, die seit Yasmins Tod verendet waren? Zugegeben, der Friedhof war nicht besonders groß, aber wie zielstrebig Tristan sein Vorhaben verfolgte, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Mir wäre fast ein 'Hast du nichts Besseres zu tun?' herausgerutscht, jedoch verkniff ich es mir in letzter Sekunde. Stattdessen bedachte ich ihn mit einem nicht gerade begeisterten Blick und zog eine Augenbraue hoch.
"Ich glaube also nicht, dass der Mörder unter dem geringen Prozentsatz der Menschen war, die nun nicht mehr hier sind", schloss er und setzte seinen neutralen Gesichtsausdruck auf. "Aber ich denke, dass dir vor allem eines nicht bewusst ist: Yasmin muss ihren Mörder gekannt haben."
"Warum denn das?", fragte ich sofort.
"Hier kennt jeder jeden. Und man wird als Kind doch immer davor gewarnt, nie mit einem Fremdem ins Gespräch zu kommen oder gar bei ihm ins Auto zu steigen", meinte er.
Ich konnte mich gut daran erinnern, dass Mama mir das stets eingeschärft hatte. Selbst wenn der Unbekannte mir Süßigkeiten versprach oder beteuerte, dass er zu Hause süße Kaninchenbabys habe, solle ich nie mitgehen. Das hatte meine Mutter mir bis vor wenigen Jahren jedes Mal gesagt, sobald ich alleine irgendwohin gegangen war. Nach allem, was sich damals ereignet hatte, konnte ich ihre Sorge auch gut verstehen.
Nun leuchtete Tristans Vermutung mir langsam ein. Aber zugleich wollte ich ihr keinen Glauben schenken, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass einer der Dorfbewohner tatsächlich meine Schwester umgebracht haben sollte. Die meisten Menschen kannte ich schon ewig.
"Es hätte auch jemand aus dem Umkreis sein können. Oder jemand, den Yasmin vielleicht aus der Schule kannte", versuchte ich Tristan und mich selbst zu überreden.
"Natürlich", stimmte er mir zu. "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus dem Ort die Tat begangen hat, ist größer. Auch wenn ich mich nur ungern mit dem Gedanken angefreundet habe."
"Theoretisch könnte es jeder gewesen sein", sagte ich erneut.
Tristan nickte. "Ja, theoretisch. Die Praxis sieht allerdings anders aus. Schließlich hat man nie Spuren gefunden, die auf einen Kampf hingewiesen hätten. Außerdem hat niemand Schreie gehört. Deshalb vermute ich, dass der Mörder Yasmin vertraut war."
Ich schluckte trocken. Was Tristan mir erzählte, war logisch, gleichzeitig aber auch furchteinflößend. Seinen Überlegungen nach musste der Mörder noch immer unerkannt unter uns leben. Eine beängstigende Vorstellung.
"Denn ich glaube kaum", fügte er hinzu und legte eine theatralische Pause ein, "dass deine Schwester so naiv war und einem Fremden gefolgt ist."
"Sie war doch erst Acht", flüsterte ich.
"Aber deshalb nicht dumm. Oder wärst du etwa in diesem Alter einfach in ein unbekanntes Auto gestiegen oder mit einem Fremden mitgegangen?", fragte er und ich schüttelte den Kopf. Natürlich nicht.
"Hast du noch mehr Menschen außer Christel auf Yasmin angesprochen?" Auf meinen Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet.
"Nur als ich das Kreuz gerade erst entdeckt hatte. Damals habe ich mich bei ein paar Leuten umgehört und mein Pflegevater hat mir schließlich von dem Mord erzählt. Aber ich wusste, dass ich für nähere Informationen jemanden fragen musste, der entweder deiner Familie nahe stand oder über alles gut informiert war. Zu meinem Glück traf beides auf Christel zu", erwiderte er. "Und sie war auch bereit, mir die Zeitungsartikel auszuleihen, die sie aufbewahrt hatte. Ebenso die Weihnachtskarten. Aber ich wusste, dass sie nicht zu jenen Personen gehörte, die Geheimnisse oder vertrauliche Angelegenheiten für sich behalten konnten. Aus diesem Grund habe ich ihr klar gemacht, dass sie unbedingt darüber schweigen muss. Wie es scheint, hat sie das ja getan."
"Warum erzählst du mir alles so bereitwillig? Ich meine, du kennst mich kaum und ich könnte ebenfalls alles weitersagen", erkundigte ich mich.
"Wahrscheinlich weil ich nicht glaube, dass du das tun wirst. Immerhin bist du ihre Schwester und meine Vermutungen scheinen dir allesamt einzuleuchten. Auch wenn es dir ebenso wie mir schwerfällt, sie wirklich anzunehmen", sagte er und seine Stimme klang ehrlich.
Mit seinen Worten hatte er ins Schwarze getroffen. Besser hätte ich es nicht formulieren können.
"Da hast du Recht", murmelte ich. Tristan hatte mir alle meine Fragen, die sein Erscheinen bei mir ausgelöst hatte, beantwortet. "Danke."
Zwar wusste ich nicht genau wofür und er vermutlich ebenfalls nicht, doch er lächelte mich freundlich an.
"Kann ich mir die Weihnachtskarten ausleihen? Ich bringe sie dir auch bald zurück", beteuerte ich.
Er nickte und legte sie zusammen mit den Zeitungsartikeln in die Mappe, die er mir anschließend reichte. "Du kannst sie behalten, solange du möchtest."
Wortlos nahm ich sie entgegen. Obwohl Tristan mir in einigen Angelegenheiten etwas seltsam und eigen erschien, hatte er doch auch etwas Sympathisches an sich. Vor allem, wenn er seinen Gegenüber nicht musterte, als sei er ein Museumsobjekt.
"Ist es eigentlich schwer für dich? Also über Yasmin zu reden?", fragte er und wirkte dabei fast ein wenig schüchtern.
"Manchmal", gab ich offen zu. "Ich rede lieber über sie als Person, nicht über ihren Tod."
Er nickte und ich hatte das Gefühl, dass er mich verstand. "Tut mir Leid, falls ich dich mit allem so überrumpelt habe."
"Hast du nicht, schließlich bin ich hierher gekommen, um mit dir zu reden. Vor allem, weil ich wissen wollte, warum Christel plötzlich Dinge für sich behält. Und ich hatte dich noch nie hier gesehen", ergänzte ich. "Auch wenn ich unsere Begegnungen wirklich unheimlich fand."
Ich drehte die Mappe in meiner Hand. Es kam mir so vor, als hätte er Zugang zu viel mehr Informationen gehabt als ich, da meine Familie nicht gerne über Yasmins Tod sprach und Christel ebenfalls nie ausführlich mit mir darüber geredet hatte.
Plötzlich kam mir eine andere Frage in den Sinn. "Warum bist du eigentlich weggelaufen, nachdem du mich beim Kreuz am Lavendelfeld gesehen hast?"
"Vermutlich war das eher eine Art Instinkt", antwortete er und ich meinte zu erkennen, dass er etwas errötete, obwohl ich es im spärlichen Licht nicht gut erkennen konnte. "Als ich dich bemerkt habe, dachte ich zuerst, dass du Yasmin seist. Auf den ersten Blick saht ihr euch so unglaublich ähnlich, auch wenn du natürlich doppelt so alt bist wie Yasmin auf all den Bildern. Ich habe meinen eigenen Augen für einen Moment nicht mehr getraut und meine Gedanken haben verrückt gespielt. Wahrscheinlich war meine erste Reaktion deshalb, einfach zu gehen. Erst danach ist mir eingefallen, dass du Yasmins kleine Schwester sein musstest. Davon wollte ich mich gestern im Supermarkt noch einmal vergewissern. Und ich muss zugeben, dass ich bei deinem Anblick ständig an Yasmin denken muss."
Ich schlug die Augen nieder und schwieg, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.
"Und was deinen Vater betrifft...", setzte Tristan an, doch ich unterbrach ihn, bevor er seinen Satz fortführen konnte.
"Rede nicht von meinem Vater!" Dass Tristan in der Vergangenheit des Dorfes und dem Mord an Yasmin herumforschte, war das eine, aber dass er nun auch meinen Vater ins Spiel brachte, ging definitiv zu weit. Yasmins Tod hatte ich nicht miterlebt und er hatte zwar meine Familie betroffen, durch meine spätere Geburt aber nicht mich persönlich, auch wenn ich die Folgen bis heute spüren konnte. Zudem hatte ich Abstand dazu gewonnen, ganz im Gegensatz zu meinem Vater.
"Alles, was meinen Vater betrifft, ist nicht deine Angelegenheit. Nur die meiner Familie!", stellte ich klar und atmete tief ein und aus, um mich zu beherrschen und zu verhindern, dass ich mich in Rage redete.
Beschwichtigend hob Tristan die Hände und ich fragte mich, was und wie viel er von meinem Vater wusste. Zu gerne hätte ich danach gefragt, aber stattdessen biss ich mir auf die Lippe und zwang mich zur Ruhe.
Sobald Gesprächsthemen auf meinen Vater fielen, wurde mir entweder unwohl oder ich reagierte aufbrausend, wie ich es auch jetzt tat. Langsam atmete ich durch die Nase ein und den Mund aus. Meine Hände hatte ich noch immer zu Fäusten geballt und meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, wo sie rote Abdrücke hinterließen, als ich mich wieder entspannte.
"Tut mir Leid, so war das überhaupt nicht gemeint", antwortete Tristan etwas kleinlaut. "Ich konnte schließlich nicht wissen, dass du nicht gerne darüber sprichst."
Nicht nur ich vermied Unterhaltungen, die meinen Vater betrafen. Auch meine Familie schwieg sich beharrlich über ihn aus, ebenso beinahe das ganze Dorf. Wahrscheinlich hatte Tristan etwas von mir darüber erfahren wollen, doch den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Nicht einmal, wenn er dafür vor mir niederknien und mir die Füße küssen würde.
"Ich dachte nur, dass ich vielleicht dich nach ihm fragen könnte, wenn du schon einmal hier bist", sagte Tristan. "Zu ihm habe ich kaum Informationen."
"Meine Familie ist kein Ausstellungsstück im Museum, über das du etwas im Reiseführer nachlesen oder nach dem jemanden fragen kannst!", erwiderte ich empört. "Und es ist nicht deine Aufgabe, jedes Detail unserer Familiengeschichte ans Tageslicht zu bringen. Manchmal ist es besser, wenn man etwas auf sich beruhen lässt. Immerhin kann man es sowieso nicht ändern."
"Aber würdest du nicht auch wollen, dass man Yasmins Mörder irgendwann endlich findet und er seine gerechte Strafe erhält?", entgegnete er und wirkte augenblicklich viel selbstsicherer.
"Doch, natürlich." Meine Augenbrauen zogen sich zusammen und ich verschränkte die Arme.
"Siehst du. Dazu brauche ich möglichst alle Materialien und alle Umstände, die ich bekommen kann. Und seit ich dich vorgestern gesehen habe, war mir klar, dass du ein Schlüssel dazu sein könntest, weil ich gehofft habe, dass du mehr zu allem weißt. Vor allem, da ich mir sicher sein könnte, dass du mir keine erdachten Informationen unterjubelst, wie Christel es bestimmt andauernd tut", meinte er.
"Warum fragst du nicht meine Großeltern? Ich habe Yasmins Tod nicht miterlebt", antwortete ich.
Er zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich, weil sie in dieser Sache einiges empfindlicher sind, da sie direkt davon betroffen waren. Deshalb habe ich auch zuerst Christel aufgesucht, aber langsam habe ich das Gefühl, dass sie auch nichts Neues mehr weiß, sondern sich nur noch Dinge in ihrer Fantasie ausmalt, von denen sie mich dann überzeugen will."
Das klang einleuchtend. Schließlich war hier jedem bewusst, dass Christels Aussagen nicht unbedingt zu den zuverlässigsten Informationsquellen zählten.
"Ich helfe dir mit Yasmin weiter, so gut ich kann", bot ich ihm an, obwohl ich immer noch etwas wütend war. "Aber dafür lässt du meinen Vater aus dem Spiel."

DU LIEST GERADE
Lavendelblütenmord
Misterio / SuspensoWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...