Kapitel 46

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Bestürzt schauten wir sie an. Keiner wagte es, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Unwillkürlich hatte ich sogar die Luft angehalten. Mein Mund fühlte sich trocken an.
"Lasst euch nicht zu lange Zeit, ich möchte nicht ewig warten", bellte Pauline ungeduldig und tippte mit der flachen Klinge des Messers auf ihren Arm.
Ich spürte, wie Tristan meine Hand nahm und sie ein Mal sanft drückte. Dann wandte er sich mir zu und auch ich drehte mich zu ihm. Wir sahen uns einen Moment lang an und schlossen uns in die Arme. In mir fühlte ich nichts. Nicht eine einzige Regung. Als sei ich innerlich bereits tot. Als hätte ich meinen Lebenswillen bereits verloren. "Es tut mit wirklich leid, dass ich dich in diese Sache mit hineingezogen habe", sagte er leise zu mir, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten.
Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, dass ich diejenige war, die uns durch eine unbedachte Aussage in diese Situation gebracht hatte, aber Tristan verschloss meinen Mund, indem er seine Hand auf meine Lippen legte. Stumm schüttelte er den Kopf und ich senkte den Blick.
Wie lange würden wir noch hier nebeneinander stehen? Wie lange würde ich seine Finger noch auf meinem Mund spüren? Wie lange würden wir überhaupt noch leben?
Langsam strich ich über Tristans Hand und nahm sie von meinen Lippen. Ich schaute wieder zu ihm hoch und der Blick in seinen Augen war unergründlich. Aber ich sah, dass Tränen darin standen. Doch kaum hatte ich das bemerkt, da wandte er sich von mir ab. "Fertig?", fragte Pauline und spielte mit dem Messer in ihrer Hand herum, das unheilvoll im Mondlicht glänzte. "Wer möchte zuerst?"
Ohne zu antworten, schob sich Tristan vor mich. Erschrocken keuchte ich auf und packte ihn an den Schultern. "Nein, Tristan, tu das nicht!"
Doch dieser machte keinen Schritt zur Seite. Verzweifelt zerrte ich an seinem T-Shirt und fühlte, wie mir die Tränen kamen und nacheinander meine Wangen hinunterliefen.
"Tristan, bitte nicht!", flehte ich.
Langsam drehte er seinen Kopf zu mir um und warf mir einen letzten Blick aus seinen blauen Augen zu.
Pauline stieß ein hämisches Lachen aus. "Na, da hat dich aber jemand lieb gewonnen, Isabelle. Und genau deshalb bist du als Erstes dran."
Mir blieb die Luft weg und nur ein Schluchzen drang noch über meine Lippen. Todesangst breitete sich in mir aus und ich hatte das Gefühl, dass mir auf einmal ganz kalt wurde. Mein Herz erstarrte zu einem Eiskristall und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Ein Zittern durchlief meinen Körper und ich wich nach hinten. Das kühlte Metallgitter der Absperrung grub sich in meinen Rücken.
Ich tastete nach etwas, woran ich mich festhalten konnte, und bekam die Eisenstäbe zu fassen. Vor meinen Augen verschwamm alles und im nächsten Moment wurde die Welt um mich herum schwarz, bevor sie sich langsam wieder vor mir zusammensetzte.
"Niemals!", hörte ich Tristan sagen und presste mich noch enger gegen das mannshohe Gitter.
"Wenn ihr springt, könnt ihr sogar gleichzeitig sterben", bot Pauline an und ihr grässliches Lachen hallte in meinem Kopf wider.
Sollten wir tatsächlich denselben Weg wie mein Vater nehmen? Oder Pauline wortwörtlich ins Messer laufen? Was war schneller, was war weniger schmerzhaft?
Ich schloss die Augen und weitere Tränen rannen meine Wangen hinunter. Innerlich flehte ich Gott an, uns aus dieser Situation zu befreien. Es gab niemanden, der uns retten konnte, niemanden, der in der Lage war, Pauline zu stoppen. Nur ein Wunder konnte uns vor ihr schützen.
Als ich zum Himmel hinaufblickte, sah ich all die Sterne. Irgendwo da oben waren Yasmin und mein Vater. Und bald auch ich.
Der Gedanke ließ mich aufschluchzen und ich spürte Tristans Körperwärme neben mir, als er sich enger an mich heranstellte. Aber Trost spenden konnte auch er mir nicht.
Lief das Leben wirklich wie ein Film an einem vorbei, wenn man im Sterben lag? Sah man einen langen Tunnel mit Licht am Ende? Oder wurde es einem lediglich schwarz vor Augen? Oder fühlte es sich wie ein Schlaf an, aus dem man nie wieder erwachte? Hörte man dann die Engel singen? Bald würde ich es wissen.
Pauline trat näher an mich heran. "Du brauchst nicht weinen, alles geht ganz schnell. Viel schneller als dir lieb ist."
Im nächsten Augenblick spürte ich die kühle Klinge des Messers an meinem Hals. Panik erfasste mich in wellenartigen Schüben.
"Nein, ich will nicht", schluchzte ich. "Ich kann noch nicht sterben!"
"Ach, wieso denn? Außer deiner Mama und deinen Großeltern kannst du niemanden mehr verlieren", antwortete Pauline und ein diabolisches Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus.
"Ich will doch noch so viel machen", flehte ich und lugte zu ihrer Hand hinunter. Noch übte sie keinen Druck auf das Messer aus, aber sie konnte meinem Leben jeder Sekunde ein Ende bereiten. "Lass mich lieber springen!"
Tristan nahm meine Hand. "Wenn du springst, dann springe ich auch."
Wir sahen einander einen Moment lang an und tauschten Blicke aus, als hätten wir ein geheimes Übereinkommen. Durch die eigene Hand zu sterben, war immerhin würdevoller, als sich das Messer von Pauline in den Hals stechen zu lassen. Wahrscheinlich würde sie ihr Opfer dann einfach liegen lassen und warten, bis es verblutet war.
Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht und ich sah zu dem Fluss hinunter, der wie zähes Pech mehrere Meter unter uns dahinfloss. Das Flussbett war nicht tief und bei Tageslicht konnte man die vielen Steine dort gut erkennen. Wenn man von der Brücke sprang und auf einem von ihnen aufkam, war man bestimmt fast auf der Stelle tot und musste nicht mehr leiden.
"Gut", erwiderte Pauline. "Dann muss ich mir nicht die Hände schmutzig machen. Los, steig endlich auf das verdammte Geländer!" Sie schrie mir die letzten Worte beinahe ins Gesicht und deutete mit dem Messer auf mich.
Zitternd zog ich mich an dem Geländer hoch und schwang ein Bein über den Holzbalken. Mein Blick wanderte nach unten. Pauline begann, von Zehn rückwärts zu zählen.
Ich schloss die Augen und merkte, wie ich plötzlich ganz ruhig wurde. Dann holte ich ein letztes Mal Luft.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt