Kapitel 29

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Mitten in der Nacht wurde ich davon geweckt, dass Apollo auf mein Bett sprang und seine Krallen in das dünne Laken grub. Sofort schreckte ich hoch und sah in die blitzenden Augen des Katers. Dieser fauchte und ich hatte Angst, dass er mich gleich anspringen würde. Doch stattdessen krümmte er den Rücken zu einem Buckel und fixierte mich.
Müde sank ich zurück in das Kissen. Vorhin hatte ich ewig gebraucht, bis ich endlich eingeschlafen war. Nicht nur, weil die Hitze mir unerträglich erschienen war, sondern auch da mich die Gedanken an Yasmin, Volker, Tristan und meine Großeltern nicht losgelassen hatten. Ich hatte lange darüber nachgedacht und mich zudem gefragt, was Mama dazu sagen würde. Vermutlich würde sie mich lediglich schockiert anstarren und lange kein Wort herausbringen.
Bestimmt hatte ich nicht einmal eine Stunde geschlafen und ich verfluchte den Kater, der seine nächtlichen Streifzüge ausgerechnet in meinem Zimmer fortsetzen musste. Ob ich jetzt überhaupt wieder einschlafen können würde?
"Mistvieh", murmelte ich, obwohl ich Apollo sonst gerne mochte. Aber wenn es um meinen Schlaf ging, verstand ich keinen Spaß.
Als hätte er mich verstanden, stolzierte Apollo noch ein paar Zentimeter auf mich zu und fauchte wieder. Seine Ohren zuckten unruhig hin und her. Ich hob die Decke etwas hoch, damit er von meinem Bett hinuntersprang, doch er machte keinerlei Anstalten dazu. Nun begann er sogar, zu miauen.
Wollte er etwas von mir? Da ich keine eigene Katze besaß und mich nur für wenige Wochen im Jahr um Apollo kümmerte, besaß ich kaum nennenswertes Wissen, das mir nun weitergeholfen hätte. Vielleicht hatte er ja Hunger oder Durst und ich sollte ihm seine Näpfe auffüllen.
Vorsichtig schlüpfte ich unter der Bettdecke hervor und rieb mir schlaftrunken die Augen. Dann gab ich Apollo einen leichten Klaps, der daraufhin erneut ein Fauchen von sich gab. Aber plötzlich, als wäre er von der Tarantel gestochen worden, sprang er auf den Boden und flitzte aus dem Zimmer.
Mein Kopf war im Moment definitiv nicht in der Lage, einen Grund dafür zu finden und so seufzte ich nur "Katzen", bevor ich schlaftrunken hinterherging.
Im Gegensatz zu Apollos weichen Pfoten hörte man jeden meiner Schritte auf dem Parkett. Besonders als ich die Treppe hinunterstieg, kam ich mir wie ein Trampeltier vor. Das lag aber auch daran, dass ich die Stufen im Dunkeln kaum erkennen konnte, da das Licht, das durch die Fenster fiel, zu schwach war. Eigentlich hätte ich auch das Licht anschalten können, doch dann hätte ich vielleicht meine Großeltern geweckt, die oft mit angelehnter Zimmertür schliefen. Vorsichtig tastete ich mich hinunter ins Erdgeschoss.
Von dem Kater war allerdings weder etwas zu sehen, noch zu hören. Ich vernahm nur das leise Brummen des Kühlschranks und das Ticken der Küchenuhr. Für einen Moment hielt ich erneut die Luft an und lauschte, ob ich Apollo nicht doch ausmachen konnte.
"Apollo?", flüsterte ich und betrat langsam die Küche, die Hände stets ausgestreckt, um zu verhindern, dass ich gegen etwas lief. Zu Hause war mir das bereits ein paar Mal passiert und ich hatte mir immer ein paar blaue Flecken eingefangen.
Gerade als ich einen Fuß über die Schwelle setzte, spürte ich plötzlich etwas Weiches an meinen nackten Schienbeinen. Vor Schreck gab ich einen keuchenden Laut von mir. Von unten ertönte ein Miauen und ich ging in die Hocke, um Apollo über sein seidiges Fell zu streichen und mich dadurch selbst etwas zu beruhigen. In der Dunkelheit konnte man ihn durch sein schwarzes Fell kaum erkennen und nur seine schmalen Augen schienen zu leuchten.
Erneut miaute er und strich um meine Beine. Was wollte er denn nun? Eben hatte er mich noch angefaucht, aber jetzt wurde er fast schon anhänglich. Für eine nächtliche Streicheleinheit hatte ich jedenfalls keinen Deut übrig. Dann hätte ich einfach im Bett bleiben und weiterschlafen können.
"Was?", fragte ich kaum hörbar und verdrehte die Augen. Ich wollte mich endlich wieder hinlegen.
Apollo sah mich an und verschwand dann in Richtung Eingang. Genervt ging ich ihm hinterher, sorgfältig darauf achtend, nichts von den Regalen hinunterzuschmeißen.
Aus der Stille erklang wieder ein Miauen und ich orientierte mich etwas daran. Als ich endlich hinter Apollo stand, saß dieser tatsächlich vor der Eingangstür. Wollte er nach draußen?
Müde rieb ich mir über die Augenlider. War ich nun etwa aufgestanden, um den Kater hinauszulassen, obwohl er auch alleine ins Freie kommen konnte?
Da ich keinerlei Anstalten machte, mich zu regen, miaute Apollo erneut und stolzierte vor der Tür auf und ab. Zwar konnte ich seine Bewegungen lediglich erahnen, aber hin und wieder glänzte sein Fell kurz im schwachen Licht. Als ich mich noch immer nicht bewegt hatte, begann er zu fauchen.
"Was denn?", wiederholte ich. "Willst du nach draußen?"
Natürlich konnte Apollo nichts erwidern, doch er tigerte weiterhin vor der Tür herum, sodass ich meine Frage als beantwortet betrachtete. Im Dunkeln tastete ich auf der Kommode nach dem Hausschlüssel, den meine Großeltern dort immer platzierten.
Zwar hatte ich den Schlüssel innerhalb kürzester Zeit gefunden, dafür dauerte es aber umso länger, ihn ins Schloss zu stecken. Im Prinzip sah ich nichts und stocherte lang an der Tür herum, bis ich schließlich das Schlüsselloch traf.
Mit einem Seufzen öffnete ich und Apollo schlüpfte sofort hinaus. Fahles Mondlicht fiel ins Haus hinein und die kühle Nachtluft ließ mich erzittern. Gierig atmete ich ein, bis meine Lungenflügel zu zerplatzen schienen. Ich machte einen Schritt hinaus und genoss den sanften Wind auf meiner Haut. Die Sterne am Himmel funkelten und ich lächelte kurz.
Gerade als ich wieder hinein gehen wollte, fiel mir ein Gegenstand auf, der nur wenige Meter von mir entfernt lag. In einigem Abstand davon saß Apollo und starrte ihn an. Der Kater hatte sein Fell gesträubt und den Schwanz um sich gelegt.
Neugierig ging ich zu ihm und hob den Gegenstand auf. Es war ein kleiner Ball, wie auch ich ihn vor ein paar Jahren besessen hatte. Dieser hatte zwar eine andere Farbe, doch früher hatte ich gerne damit auf der Straße gespielt.
Aber wie gelangte dieser Ball in den Garten meiner Großeltern? Hatte der Wind ihn vielleicht über die Hecke hinübergetragen? Doch das konnte ich mir nicht vorstellen, dazu war das Lüftchen, das gerade wehte, viel zu schwach. Oder hatte Oma oder Opa ihn hier liegengelassen?
Verwirrt drehte ich das Spielzeug in den Händen. Woher stammte es? Und war es das, worauf mich Apollo hatte aufmerksam machen wollen?
Um Letzteres zu hinterfragen, warf ich Apollo den Ball zu, der diesen zunächst skeptisch beäugte und ihn anschließend vorsichtig mit der Pfote antippte. Ein leises Fauchen entwich seinem Maul und er machte einen kleinen Satz nach hinten. Anscheinend hatte er noch nie mit einem Ball gespielt und war deshalb sehr schreckhaft.
Gähnend hob ich das Spielzeug wieder auf und drehte es in den Händen. Ich hätte gerne gewusst, wem es gehörte und wie es hierher gelangt war. Außerdem kannte ich niemanden, der mit einem Ball spielen könnte. Tristan war der jüngste Dorfbewohner.
Ehe ich mir weiter darüber Gedanken machen konnte, überwältigte mich die Müdigkeit und ich rieb mir über die Augen. Bewegung half ja bekanntlich beim Einschlafen und somit müsste ich die übrigen Stunden bis zum Frühstück ungestört im Land der Träume verbringen können.
"Bleibst du draußen?", murmelte ich Apollo zu und kraulte ihm den Kopf. Davon schien der Kater jedoch keine Notiz zu nehmen, denn er bewegte sich nicht und starrte geradeaus. Lediglich sein Schwanz peitschte hin und her.
Manchmal hätte ich gern in die Köpfe von Tieren geschaut, um sie zu verstehen. Aber Katzen würden mir wahrscheinlich immer ein Rätsel bleiben. Ihr unberechenbares Verhalten war selbst für Katzenliebhaber bestimmt manchmal ein Mythos.
Da Apollo keinerlei Reaktion zeigte, zuckte ich mit den Schultern und ging ins Haus zurück. Meine Augenlider schienen Tonnen zu wiegen und ich hatte Mühe, sie nicht ständig ein paar Sekunden lang zu schließen. Den Ball legte ich neben die Kommode im Flur, wo ihn auch Oma und Opa sehen können würden. Vielleicht kannten sie seinen Besitzer und ich würde ihn demjenigen morgen zurückgeben.
Im Halbschlaf stieg ich die Treppe hinauf und es grenzte an ein Wunder, dass ich mich dabei nirgends anstieß und keine blauen Flecken davontrug.
Als hätte ich nächtelang kein Auge zugetan, ließ ich mich auf mein Bett fallen und zog mir halbherzig die Decke über den Kopf. Es dauerte nicht lang und ich war eingeschlafen, in Gedanken noch immer bei dem Ball.

Wie eine Halbtote ging ich am nächsten Morgen die Treppe hinunter. Es war bereits nach zehn Uhr und trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich nicht eine Stunde lang geschlafen. Mein ganzer Körper zehrte sich nach dem Bett, doch ich wollte nicht, dass meine Großeltern allzu lang mit dem Abräumen des Frühstücks warten mussten.
Ein Blick in den Spiegel im Bad hatte mir bestätigt, dass ich tatsächlich eher einem Zombie glich. Meine braunen Locken standen zwar inzwischen nicht mehr wie elektrisiert von meinem Kopf ab und sahen auch nicht mehr so aus, als hätte ein Vogel in ihnen genistet, dadurch lenkte aber nichts mehr von meinem Gesicht ab. Unter meinen geröteten Augen lagen Schatten und mein gesamter Teint schien um mehrere Nuancen heller geworden zu sein. Tatsächlich wirkte ich eher wie eine Leiche, die man wieder zum Leben erweckt hatte.
Ich hatte keine Zeit mehr damit verschwendet, mir Kleidung auszusuchen, sondern hatte nach dem erstbesten Shirt und einer mehrfach geflickten Shorts gegriffen. Nun sah ich wirklich aus wie eine Tote aus dem Altkleidercontainer.
Zu meiner Verwunderung saßen Oma und Opa noch immer am Tisch, obwohl sie normalerweise viel früher aßen. Die beiden hatten eine Tasse Kaffee vor sich stehen und schauten mich seltsam an, als ich den Raum betrat. Kein Wunder, bei meinem Anblick hätte selbst ich das Gesicht verzogen.
"Guten Morgen", meinte ich und unterdrückte ein Gähnen. Mit schlurfenden Schritten gelangte ich zu meinem Stuhl und ließ mich darauf nieder. Mein ganzer Körper fühlte sich kraftlos an und wahrscheinlich hatte ein Sack Kartoffeln im Moment mehr Temperament als ich.
"Guten Morgen", erwiderte Oma und beobachtete mich, wie ich ein Brötchen aufschnitt und es mit Marmelade bestrich. Selbst als ich begann, meinen Tee zu trinken, wandte sie den Blick nicht von mir ab.
"Was ist los?", fragte ich irritiert und legte die Stirn in Falten. Es gab nichts Schlimmeres, als beim Essen angeschaut zu werden.
Oma legte den Ball, den sie wohl auf dem Schoß gehabt hatte, mit Nachdruck auf den Tisch. "Woher kommt der?"
"Ach, der", sagte ich gedehnt und begann, von Apollos nächtlichem Bedürfnis, nach draußen zu gehen, zu erzählen. "Deshalb bin ich jetzt auch so unausgeschlafen", endete ich.
Oma und Opa hatten währenddessen keine Miene verzogen und mir zugehört, ohne mich zu unterbrechen. "Wo lag der Ball genau?", fragte Opa schließlich.
"Etwa in der Mitte zwischen Straße und Haus", schätzte ich. Im Dunkeln hatte ich ihn nicht sehr exakt ausmachen können und so waren meine Erinnerungen diesbezüglich nicht die besten. "Wisst ihr, wie er in den Garten gelangen konnte? Es gibt doch niemanden hier, der mit Bällen spielt, oder?"
"Genau darüber wundern wir uns auch", gab meine Oma zurück und warf Opa einen schnellen Seitenblick zu. Dieser fuhr sich durch die grau-weißen Haare und nickte.
Eine Zeit lang sagte niemand mehr etwas und es waren nur meine Kaugeräusche zu hören. Meine Gedanken drehten sich um den Ball. Die Frage, wie er in den Garten gelangt war, ließ mich nicht los und ich versuchte, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Aber mit jeder weiteren Möglichkeit, die ich mir erdachte, hatte ich das Gefühl, dem tatsächlichen Grund nicht näher zu kommen, sondern mich eher davon zu entfernen.
"Das ist wirklich ein Rätsel", seufzte ich schließlich, um der Stille ein Ende zu bereiten.
Wieder schaute Oma zu meinem Großvater hinüber und ich runzelte die Stirn. Es schien, als wolle sie mir etwas sagen, warte aber noch darauf, eine Erlaubnis von Opa zu bekommen. Normalerweise war dies überhaupt nicht ihre Art.
"Wir wollen dir etwas zeigen", brachte sie zögerlich hervor und stand auf. Ich traute meinen Augen kaum, als sie den Wandkalender in die Hände nahm, den man schon seit über sechzehn Jahren nicht mehr umgeblättert hatte. Ihre Finger zitterten leicht, als sie ihn vor mir niederlegte und den Monat Februar aufschlug.
Sofort beugte ich mich darüber, um Yasmins Bild näher betrachten zu können. Meine Schwester trug ein Sommerkleid, die braunen Locken zu Zöpfen geflochten. In ihren kleinen Kinderhänden hielt sie den Ball.

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