"Was hast du da?" Tristan erschien in meinem Blickfeld und ich sah wie in Trance von der Jacke auf.
"Das ist die Jacke desjenigen, der mir neulich entwischt ist", antwortete ich und schluckte.
Er legte die Stirn in Falten und stellte die Becher ab, bevor er mit der Hand über das Leder strich. "Sicher, dass das genau die ist?"
"Zu neunundneunzig Prozent", erwiderte ich. "Exakt kann ich es nicht sagen, schließlich habe ich nur den Ärmel kurz gesehen. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass dies die Jacke der Person ist, die ich verfolgt habe."
Nachdenklich begutachtete Tristan das Kleidungsstück, dann schaute er sich um. "Gut, lass sie uns näher ansehen. Aber nicht hier, hier sind zu viele Leute."
Seine letzten Worte waren nur noch ein kaum hörbares Zischen. Ich nickte. Vielleicht beobachtete der Mörder uns genau jetzt.
Schnell verdrängte ich den unangenehmen Gedanken und gab Tristan die Jacke. In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet und ich leerte einen der Becher in nur einem Zug, um ihn hinunterzuspülen. Danach fühlte ich mich etwas besser, aber trotzdem kaute ich vor Nervosität auf meiner Unterlippe herum.
"Hast du eine Taschenlampe?", fragte Tristan.
"Nein, aber bestimmt liegt irgendwo eine herum", meinte ich mit belegter Stimme. Viele Dorfbewohner brachten Taschenlampen mit und bestimmt ließ jemand sie unbeaufsichtigt. Damit behielt ich sogar Recht, denn ein paar Meter weiter hatte tatsächlich jemand eine vergessen.
"Nicht unbedingt stark, aber das reicht", sagte Tristan, nachdem er sie kurz angeschaltet hatte. Das Licht war nicht besonders kräftig, doch auf eine kurze Distanz genügte es.
Hintereinander verließen wir die Wiese. Ohne darüber nachzudenken, wohin wir gingen, folgte ich Tristan. Erst als wir den schmalen Weg eingeschlagen hatten und langsam bergauf liefen, bemerkte ich, dass Tristan mich zu dem Lieblingsort meines Vaters führte. Doch ich hakte nicht nach, sondern stapfte einfach hinterher.
Je weiter wir uns von der Wiese entfernten, desto wohler wurde mir und ich konnte endlich aufatmen.
Die Musik drang nur noch gedämpft an unsere Ohren und die Stille des Waldes schien immer lauter zu werden. Unter unseren Füßen knackten ab und zu kleine Zweige und das Laub raschelte. Hin und wieder vernahm ich leise Geräusche aus dem Unterholz und ein Mal segelte sogar eine Eule über uns hinweg.
Ich genoss die Ruhe und langsam verschwand das Gewicht von meiner Brust, das mir das Atmen erschwert hatte. Der sanfte Schein der Taschenlampe zeigte uns den Weg und ich spürte die kühle, nach Erde schmeckende Luft in meinen Lungen. Die Hitze, die beim Tanzen durch meinen Körper gewallt war, hatte sich längst verflüchtigt.
Im Gleichschritt gingen wir hintereinander her. Tristan hatte die Lederjacke über seine rechte Schulter geworfen und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über den unebenen Boden wandern. Im Dunkeln konnte ich seinen Körper nur mit Mühe ausmachen und ich war dankbar dafür, dass er ein helles T-Shirt trug, das man gut erkennen konnte.
Nur an ein paar Stellen drang der Mond durch das dichte Blätterdach. Als ich nach oben blickte, sah ich vereinzelte Sterne funkeln. Es war kein Vollmond mehr, er hatte schon etwas abgenommen, doch trotzdem strahlte er heller als die Taschenlampe.
Als wir aus dem dichten Wald auf den kleinen Platz bei der Brücke hinaustraten, wurde alles vom Mond hell erleuchtet. Irgendwie herrschte beinahe eine festliche Atmosphäre.
Tristans blonde Haare glänzten leicht und er zog die Jacke von seiner Schulter hinunter. Dann reichte er sie mir. "Probier sie an. Ich möchte sehen, ob sie für eine Frau oder einen Mann geschnitten ist."
Die Jacke erschien mir relativ groß, doch ich schlüpfte ohne Widerworte hinein. An den Ärmeln war sie etwas zu lang und am Oberkörper ziemlich weit geschnitten. Mit etwas Mühe würde ich wahrscheinlich fast zwei Mal hineinpassen.
"Ziemlich unförmig", stellte ich fest und gab sie ihm zurück.
Er nickte und streifte sie sich ebenfalls über. An seinem Körper wirkte sie etwas besser, weil sie nicht mehr so weit saß, sondern enger anlag. "Ich kann nicht wirklich erkennen, ob sie für einen Mann oder eine Frau gemacht wurde. Sieht eher aus wie eine große Bikerjacke."
Nun griff ich nach der Jacke. "Vielleicht steht ja eine Marke oder eine Größe im Kragen. Dann könnte man wenigstens Rückschlüsse daraus ziehen." Tristan leuchtete mir mit der Taschenlampe. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Batterie immer mehr nachließ, denn vorhin war das Licht noch deutlich heller gewesen. Der Markenname, der im Kragen aufgestickt worden war, kam mir nicht bekannt vor. Es war ein Allerweltsname, den man sogar auf eine Müslipackung hätte schreiben können.
"Größe steht keine da und die Firma kenne ich auch nicht. Aber immerhin wissen wir, dass die Jacke in China hergestellt wurde", meinte ich und sah auf.
Das entlockte Tristan sogar ein kleines Schmunzeln. "Besser als nichts. Sobald ich zu Hause bin, werde ich im Internet nach der Marke suchen. Die haben bestimmt einen Online-Shop mit Größentabelle, die wir dann abgleichen können."
"Gute Idee", nickte ich und gab sie ihm zurück. "Gibt es jemanden im Dorf, der gerne Motorrad fährt?"
"Einige Leute. Uwe auch, aber darauf habe ich bisher noch nie wirklich geachtet. Vor allem, weil die meisten Dorfbewohner ihre Motorräder in der Garage aufbewahren. Bei Autos ist das viel offensichtlicher", antwortete er und hob ratlos die Schultern.
Auch Opa bewahrte ein älteres Motorrad in seiner Garage auf. Bisher hatte ich ihn nur ein Mal damit fahren sehen, denn meistens stand das gute Stück nur im hintersten Eck. Mein Opa pflegte es wie ein geliebtes Haustier und bastelte manchmal daran herum. Das war sein Hobby und Oma, die ihm immer wieder unter die Nase rieb, dass er nie damit fahre, hatte es ihm nicht ausreden können.
"Aber man braucht ja nicht unbedingt so ein Fahrzeug, um eine Jacke wie diese zu tragen. Vielleicht findet derjenige es auch einfach nur chic", warf Tristan an.
Das konnte auch sein. "Wem könnte die Jacke gehören?"
"Ich weiß es nicht. Theoretisch jedem, so weit wie sie ist. Da passt selbst Uwe hinein", erwiderte er und strich über das Leder.
Ratlos betrachtete ich die Jacke. Nicht einmal dieser Hinweis half uns weiter. Wieder bereute ich es, die Person am Feld nicht erwischt zu haben.
"Wer saß denn vorhin am Feuer?", überlegte Tristan laut.
"Bestimmt war jeder zumindest für ein paar Minuten dort. Aber ich erinnere mich, dass David uns gegenüber stand", meinte ich.
"Mist", fluchte er. "Ich hätte wirklich besser darauf achten sollen!"
"Du kannst ja nichts dafür. Bei so vielen Menschen hätte man bestimmt schnell den Überblick verloren", antwortete ich und betrat die Brücke. Von oben schien der Mond auf mich hinab und ich stützte mich auf das Geländer. Das leise Plätschern des Flusses vermischte sich mit dem sanften Rauschen der Blätter.
Tristan trat neben mich und schaute zu den Baumwipfeln hinauf. Sein Profil zeichnete sich deutlich von der Dunkelheit ab und ich wandte schnell den Blick ab, weil es mir unangenehm war, ihn eingehend zu betrachten, während er neben mir stand. Meine Hände fuhren über das raue Holzgeländer. Unter meinen Fingerkuppen spürte ich feine Kerben und Stellen, an denen ein Stück herausgebrochen war.
"Es ist wirklich ein schöner Ort, um nachzudenken", sagte Tristan irgendwann.
Ich schloss für einen Moment die Augen und nickte dann. Alles wirkte so friedlich und man wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich jemand hier vor über dreizehn Jahren das Leben genommen hatte. Manchmal glitzerte das Wasser silbern auf, wenn es auf einen großen Stein im Flussbett traf. Dann sah es aus wie flüssiges Silber, im nächsten Augenblick wirkte es jedoch wieder zäh und schwarz wie Pech.
Leichter Wind strich über meine nackten Arme und ich rieb mir darüber, um keine Gänsehaut zu bekommen. Das dünne T-Shirt, das ich trug, wärmte mich nicht, doch ich versuchte, nicht daran zu denken.
Mein Blick fiel erneut nach unten und unwillkürlich tauchte das Bild von einem Menschen auf, der dort leblos im Wasser trieb. Wie sich die Kleidung und die Haare sachte mit der Strömung bewegten. Schnell machte ich einen kleinen Schritt nach hinten.
Tristan drehte sich zu mir um. "Wohin willst du?"
"Nirgendwo hin. Mir war gerade nur etwas schwindelig", erwiderte ich und er schaltete die Taschenlampe an. Das schwache Licht reichte gerade einmal, um den Boden halbwegs erkennen zu können. Langsam verblasste es.
"Na toll", murmelte Tristan und schüttelte die Lampe, als wolle er die Batterie damit wieder etwas aufladen. Doch sie funktionierte trotzdem nicht.
"Nicht schlimm. Wir finden den Weg zurück im Schlaf", sagte ich. Mit der Zeit würden sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnen und dann würde es hoffentlich kein Problem sein, den Trampelpfad zu erkennen.
Zweifel lag in Tristans Blick, aber er erwiderte nichts. Stattdessen lehnte er sich an das Geländer und verschränkte die Arme vor der Brust, in den Händen noch immer Jacke und Taschenlampe haltend.
Ich schob die Finger in die hinteren Taschen meiner Hose, als ich dort plötzlich ein Stück Papier ertastete. Verwirrt zog ich es heraus. Im Kopf ging ich durch, wann ich einen Zettel in die Hose gesteckt hatte. Vor allem kam mir dieses klein gefaltete, karierte Blatt überhaupt nicht bekannt vor. "Was ist das?", fragte Tristan und beugte sich zu mir hinüber.
"Keine Ahnung. Eine Einkaufsliste vielleicht?", riet ich und faltete den Zettel auseinander.
Mir blieb fast der Atem weg, als ich las, was dort stand. Selbst im schwachen Licht konnte man die dunklen Buchstaben deutlich erkennen: VERZIEH DICH!
Wieder waren sie so sauber, als hätte man alles genau abgemessen und mit dem Lineal gezeichnet. Die schwarze Schrift stach mir wie ein Dorn ins Auge und ich wandte mich ab. Der Mörder hatte noch einmal zugeschlagen.
"Scheiße", flüsterte Tristan. Sein Mund stand weit offen, selbst ihm schien es beinahe die Sprache verschlagen zu haben. In seinen Augen schimmerte Entsetzen und ich meinte, sogar Angst darin zu erkennen.
Mein Herz schlug schneller und ich spürte die Hand beinahe erneut auf meinem Po. "Merle", hauchte ich fassungslos. "Merle muss ihn mir zugesteckt haben."
"Sicher?" Tristan legte eine Hand auf meine Schulter und schaute mich mit festem Blick an. Er presste die Lippen fest aufeinander, sodass sie kaum mehr als ein dünner Strich waren.
"Ich habe gesehen, wie sie in der Menge verschwunden ist", gab ich zur Antwort. "Tristan, es war Merle!"
"Aber du warst doch immer so davon überzeugt, dass sie es nicht war, weil niemand solche Gefühle vorspielen kann", erwiderte Tristan und der Druck auf meinen Schultern verstärkte sich.
"Ich weiß", gab ich zurück und holte tief Luft. Meine Stimme überschlug sich fast, so schnell schlüpften die Wörter aus meinem Mund. "Als wir getanzt haben, habe ich am Po plötzlich eine Berührung gespürt und einen Moment später ist Merle zwischen den anderen Leuten verschwunden!"
Für eine Sekunde hielten wir beide den Atem an und sahen uns fassungslos in die Augen. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ungläubigkeit und Erstaunen über diese Erkenntnis füllten meinen ganzen Körper aus.
Tristan atmete langsam aus und schloss die Augen. Ich spürte, dass seine Hände auf meinen Schultern leicht zitterten.
"Vorhin hat sie mich schon einmal angerempelt", sagte ich und realisierte erst kurz danach, dass ich tatsächlich diejenige war, die den Satz ausgesprochen hatte.
"Und so etwas hast du mir nicht erzählt?", rief Tristan und ließ mich los. Fassungslos schüttelte er den Kopf und fuhr sich durch die Haare.
"Es kam mir nicht besonders wichtig vor", verteidigte ich mich. "Wahrscheinlich wollte sie mir den Zettel schon da zustecken."
Er seufzte und schaute zum Himmel hinauf. "Was jetzt?"
Das hatte ich eigentlich ihn fragen wollen, denn gerade war ich viel zu durcheinander, um mir etwas einfallen zu lassen. Deshalb biss ich die Zähne zusammen und schwieg. Den Zettel hielt ich noch immer in meiner Hand und betrachtete ihn noch einmal. Die dunklen Buchstaben brannten sich in meine Netzhaut und ich blickte schnell weg.
"Was sollen wir jetzt tun?", wiederholte Tristan seine Frage und ich war mir nicht sicher, ob er sie vielleicht rhetorisch meinte.
"Wir könnten zurück zum Fest gehen und sie beobachten. Oder uns bei den anderen Dorfbewohnern erkundigen, wem die Jacke gehört", schlug ich vor, obwohl mir die Idee stumpfsinnig erschien.
"Dann lass uns gehen", antwortete Tristan unvermittelt.
Plötzlich hörte ich eine Stimme aus dem Unterholz. "So schnell geht hier niemand."
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Lavendelblütenmord
Misteri / ThrillerWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...