Die Luft in der kleinen Dorfkirche war warm und stickig. Es roch ein wenig nach Weihrauch und Schweiß. Bernd tat mir Leid. Wahrscheinlich schwitzte er höllisch unter seinem Priestergewand und musste trotzdem versuchen, entspannt zu wirken.
Oma tupfte sich hin und wieder die Stirn ab. Ich blieb lediglich ruhig sitzen, denn jede Bewegung ließ die Hitze noch größer werden. Jedes Mal, wenn wir dazu aufgefordert wurden, aufzustehen oder uns hinzuknien, ging ein leises Ächzen durch die Reihen.
Gerne hätte ich Bernds Predigt zugehört, aber nach ein paar Sätzen schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Nicht nur, weil ich mich aufgrund der hohen Temperatur kaum konzentrieren konnte, sondern auch, da ich das Ende des Gottesdienstes fürchtete. Vorhin hatte ich mir absichtlich sehr viel Zeit im Bad gelassen und meine Großeltern so fast in den Wahnsinn getrieben. In letzter Sekunde waren wir noch durch die Kirchentür gehuscht und Oma hatte keine Gelegenheit gehabt, mit den anderen Dorfbewohnern zu sprechen. Alles war verlaufen, wie ich es geplant hatte.
Doch nun wünschte ich mir sehnlichst, dass der Gottesdienst nie zu Ende gehen möge. Fieberhaft hatte ich darüber nachgedacht, wie ich meinen Großeltern erklären sollte, dass ich nach dem Mörder meiner eigenen Schwester suchte. Die Reaktionen der beiden konnte ich einfach nicht abschätzen.
Nachdem ich gestern von Tristan nach Hause gekehrt war, hatte ich mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen. Über eine Stunde lang hatte ich einfach nur auf meinem Bett gelegen, in die Luft gestarrt und meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Zu einem Entschluss war ich allerdings bis jetzt nicht gekommen.
Resigniert ließ ich den Gottesdienst über mich ergehen. Eigentlich hatte ich mich sehr darauf gefreut, aber nun war es eher eine Qual. Das Gespräch mit Volker hatte mir die Freude genommen und Platz für Angst und Nervosität gemacht.
Als Bernd schließlich die Hände zum Segen hob, fühlte ich keine Erlösung. Für mich war es eher, als hätte ich soeben das Urteil erhalten, für immer in der Hölle schmoren zu müssen.
Mein Schweiß vermischte sich mit dem Angstschweiß und ich wischte meine Hände an der Hose ab.
Jedes Wort des Priesters ließ mich trotz der drückenden Hitze zittern. Mir drehte sich der Magen um und ich war froh, dass ich nichts zum Frühstück gegessen hatte. Omas Freundinnen in den vorderen Kirchenbänken standen gleichzeitig auf, sobald Bernd seinen letzten Satz gesprochen und sich seine Stirn unauffällig abgetupft hatte. Im Gleichschritt kamen sie auf uns zu und die grauen Haare wippten im Takt.
Ich machte mich so klein wie möglich und versuchte, mich hinter der nächsten Säule zu verstecken. Aber diese war leider zu schmal, um mich vollständig verdecken zu können. Vermutlich warf mir Oma deshalb einen verwirrten Blick zu.
"Mir ist warm, ich bin draußen", nuschelte ich ihr kurz zu und verließ fluchtartig die Kirche. Im Freien unterschieden sich die Temperaturen kaum von denen in der Kirche, aber gerade kam ein schwacher Wind auf, der meine Haut etwas kühlen konnte.
Ich merkte, wie mehrere Leute mich anstarrten, aber keiner sagte etwas zu mir. Bestimmt wusste inzwischen jeder von ihnen darüber Bescheid, welche Äußerung gestern aus Volkers Mund gekommen war. Erneut begann ich, mich unwohl in meiner Haut zu fühlen. Doch alles war besser, als neben meinen Großeltern stehen zu müssen, während man ihnen alles berichtete.
Unruhig ging ich auf und ab, hin und wieder zum Eingang der Kirche schauend. Die Dorfbewohner, die ebenfalls den Gottesdienst besucht hatten, blieben auf dem kleinen Vorplatz stehen, um sich miteinander zu unterhalten. Manchmal vernahm ich Tristans und meinen Namen. Die Nachricht verbreitete sich wirklich wie ein Lauffeuer und es war ein schreckliches Gefühl, das mitzuerleben und nichts tun zu können.
Wieder trat jemand aus der Kirche und mein Herz setzte kurz aus. Opas Gesicht war kreidebleich.
Auch Oma, die sich nun an ihm vorbeischob, hätte Schneeflocken Konkurrenz machen können. Die Augen meiner Großeltern waren weit aufgerissen und für einen Moment starrten wir uns nur an, keiner bewegte sich. Meine Füße schienen auf dem Kopfsteinpflaster festgewachsen zu sein und keiner meiner Muskeln reagierte.
Opa löste sich als erstes aus der Starre und kam auf mich zu. Er sagte nichts, sondern legte mir nur die Hand auf die Schulter und schob mich ein paar Meter weg. Hinter mir hörte ich das leise Geräusch von Omas Absätzen. Als ich mich nach ihr umdrehte, erblickte ich David, der nur ein paar Meter entfernt war. Er stand bei einer Menschengruppe und war der einzige, der nicht in das Gespräch vertieft war. Stattdessen schaute er mich direkt an, woraufhin sich die feinen Härchen an meinen Armen aufstellten.
Schnell blickte ich weg. Mein Atem ging flach und mein Puls beschleunigte sich. Wusste er, dass Tristan ihn verdächtige und neulich deshalb bei ihm eingebrochen war?
Mir wurde trotz der Hitze kalt und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich noch einmal nach David umzudrehen. Er hatte seinen Blick nicht von mir abgewandt. Mich beschlich die leise Ahnung, dass er Verdacht geschöpft hatte.
Nachdem wir ein paar weitere Meter zwischen uns und die Kirche gebracht hatten, blieb Opa stehen. Er schien durch mich hindurch zu schauen, als er mir in die Augen sah. Wie jemand, der mein Innerstes lesen konnte.
Unruhig wartete ich darauf, dass einer von ihnen etwas sagte, doch beide blieben stumm. Von der Kirche her drangen Stimmen zu uns und das Schweigen lag wie die Nacht über uns, die alles Helle, alles Positive, mit ihren dunklen Mündern verschlang und nur ein Gefühl von Unmut zurückließ. Ich schluckte, um den Kloß in meiner staubtrockenen Kehle loszuwerden. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und ich brachte kein Wort heraus. Nicht einmal ein einzelner Laut entwich meinem Mund.
"Warum, meine Kleine?", fragte Oma plötzlich. "Ich dachte, alles wäre vorbei."
Die Art, mit der sie das aussprach, machte mich traurig. Es klang weder enttäuscht, noch verärgert, einfach nur nach den Schmerzen, die sie dabei empfinden musste.
"Denkst du wirklich, dass du den Mörder nach so vielen Jahren noch finden wirst, nachdem die Polizei schon lange die Suche aufgegeben hat?", fragte Oma und griff nach Opas Arm, als suche sie daran Halt.
"Man weiß nie", antwortete ich leise und ließ zu, dass mir ein paar Haarsträhnen ins Gesicht fielen, als ich meinen Kopf senkte. Ich hätte mich gerne hinter ihnen versteckt.
"Aber ist es das wirklich wert? Ist es das wirklich wert, alte Wunden aufzureißen?", erwiderte Oma und ich hätte am liebsten ihre Hand gedrückt.
"Willst du etwa zulassen, dass jemand einfach deine Enkeltochter und meine Schwester umbringt, ohne dafür bestraft zu werden?", meinte ich und presste die Lippen aufeinander. Wenn ich daran dachte, dass jemand mir eines meiner Familienmitglieder genommen hatte, ohne selbst dafür leiden zu müssen, wünschte ich mir die uralte Regel 'Kopf um Kopf, Zahn um Zahn' zurück.
"Es ist schon über sechzehn, fast sogar siebzehn Jahre her. Die Spuren, die man damals vielleicht hätte finden können, gibt es heute nicht mehr", ergriff Opa das Wort und als ich aufschaute, sah ich die Trauer um Yasmin in seinen Augen.
Er hatte Recht. Aber verbarg sich bei ihm nicht auch irgendwo das winzige Fünkchen Hoffnung, dass man den Mörder meiner Schwester noch finden würde? Wollte er etwa nicht, dass die viele Polizeiarbeit nicht umsonst gewesen war? Die Chance, dass Tristan und ich denjenigen tatsächlich ausfindig machen können würden, war, verglichen mit einem Elefanten, wahrscheinlich nicht größer als eine Fliege. Doch sie existierte und das war die Hoffnung, an die ich mich klammerte.
"Die Chancen stehen nicht unbedingt gut, aber es gibt sie", sagte ich ruhig.
Omas Blick streifte mich, als sie ihn zum Himmel wandte. "Lohnt es sich dafür tatsächlich, die alten Wunden wieder aufzureißen?"
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Schließlich war ich damals ein Baby gewesen und besaß keinerlei Erinnerungen daran. Besonders wenn ich lange nicht über meine Schwester nachgedacht und geredet hatte, schmerzte es meistens sehr. Meinen Großeltern ging es wahrscheinlich ähnlich, aber sie mussten alles viel stärker empfinden als ich es tat.
"Aber wir wollen doch alle, dass man denjenigen endlich bestraft", wich ich aus und senkte meine Stimme. "Yasmin war ein Kind, das noch sein ganzes Leben vor sich hatte, und genau deshalb darf der Mörder einfach nicht ungeschoren davonkommen!"
Oma schaute mich noch immer traurig an und seufzte schließlich. "Meine Kleine, das wollen wir alle. Für deinen Opa und mich ist es ziemlich schwer, sich wieder so damit auseinandersetzen zu müssen. Wir mussten genauso wie deine Eltern die Zeit von Yasmins Verschwinden bis zu ihrer Beerdigung miterleben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr uns das mitgenommen hat und wie lange es gedauert hat, bis wir nicht mehr am Boden zerstört waren."
Opa nickte langsam. "Die ganze Zeit über begleitet uns die Erinnerung daran, dass wir eine Enkeltochter verloren haben. Und wir wollen beide nicht, dass es uns noch einmal so ergeht."
Stille entstand zwischen uns und nur noch die Stimmen aus der Richtung der Kirche und der Vogelgesang waren zu hören. Ich hatte mir schon oft Gedanken darüber gemacht, wie sich meine Großeltern wohl gefühlt hatten, aber es aus ihren Mündern zu hören, war nicht dasselbe. Nein, ich konnte es mir nicht vorstellen und auch nicht nachempfinden. Doch ich konnte verstehen, dass die beiden sich kein weiteres Mal damit befassen wollten. Meinen Großeltern dadurch Leid zuzufügen, musste ich auf jeden Fall vermeiden.
"Außerdem", fuhr Oma fort und ihre blauen Augen funkelten vor Sorge, "habe ich Angst, noch eine Enkeltochter zu verlieren."
Dieser Satz fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Darin steckte genau das, was ich befürchtete, seitdem ich mich Tristans Suche angeschlossen hatte.
"Jeder könnte der Mörder sein", fügte Opa hinzu und strich sich über die Falten an der Stirn.
"Das weiß ich", antwortete ich. "Eigentlich wollten wir deshalb auch nicht, dass jemand davon erfährt. Bis gestern hat niemand etwas gemerkt, aber dann habe ich mich versprochen."
"Einen Mörder zu finden, ist kein Kinderspiel. Nicht nur, weil es dazu ausgebildete Menschen, die Polizisten, gibt, sondern auch da es schnell gefährlich werden könnte, falls der Mörder davon erfährt. Genau deshalb machen wir uns so große Sorgen um dich!" Um das zu betonen, legte sie mir eine Hand auf die Schulter. Jeder ihrer Gesichtszüge spiegelte die Angst wider, die sie empfand.
"Es ist deine Entscheidung, wir können es dir nicht verbieten", meinte Opa. "Das heißt jedoch nicht, dass wir uns freuen würden, wenn du weiterhin mit Tristan nach demjenigen suchst."
"Ich habe es Tristan schon versprochen", antwortete ich und biss mir auf die Lippe. Schätzte ich ihn gerade tatsächlich wichtiger als meine Großeltern ein? Der Gedanke löste sofort ein schlechtes Gewissen in mir aus, aber ich rief mir wieder ins Gedächtnis, dass ich wahrscheinlich sowieso nicht damit abschließen können würde. Jetzt, wo meine Neugier geweckt worden war.
Trotzdem erschien es mir wie ein Verrat an meiner eigenen Familie. Alle hatten damals bestimmt Höllenqualen durchlitten und es wäre unmenschlich, sie noch einmal diesen Torturen zu unterziehen. Zwar handelte ich aus keinem egoistischen Grund, aber sie durch meine Taten zu verletzen, war nicht besser.
"Ich muss mein Wort halten", sagte ich mit fester Stimme, obwohl es mir bei Omas und Opas Anblick beinahe das Herz brach. Die Beiden sahen aus, als hätte ich ihnen nur dadurch Seelenschmerzen bereitet, die man mit keiner Medizin heilen konnte.
"Es ist deine Entscheidung", wiederholte Opa mit brüchiger Stimme.
"Ich weiß, tut mir Leid", erwiderte ich. "Aber ich habe das Gefühl, dass ich es Yasmin und Tristan schuldig bin."
Warum?, schien mir Omas fragender Blick sagen zu wollen und ich schaute hastig weg, weil ich mir diese Frage selbst nicht beantworten konnte. Die Worte hatten sich einfach über meine Lippen geschlichen.
"Dann tu deinem Großvater und mir wenigstens den Gefallen und zieh uns nicht mit hinein. Wir wollen uns beide nicht mehr daran erinnern und lieber Yasmin und ihre lebensfrohe Art im Gedächtnis behalten", meinte Oma. "Ich glaube, wir können dich verstehen, aber noch einmal mit einer solchen Last auf den Schultern leben zu müssen, möchte keiner von uns."
"Ist gut", gab ich etwas kleinlaut zurück. Wie glücklich ich mich doch schätzen konnte, das damals nicht miterlebt haben zu müssen. Yasmins Tod hatte Wunden hinterlassen, die an einigen Stellen noch immer nicht vollständig verheilt waren.
Opa machte einen Schritt auf mich zu und legte mir einen Arm um die Schultern. "Deiner Schwester hätte es bestimmt gefallen, dass du dich so für sie einsetzt. Auch wenn du dabei wissen musst, wo deine Grenze liegt."
Verwirrt blickte ich auf. Was meinte er damit? Etwa dass ich meine Schmerzgrenze kennen sollte? Den Punkt, ab dem ich das Gefühl bekam, die Last des Wissens und die Vergangenheit meiner Familie nicht mehr ertragen zu können? Aber es rührte mich, dass meine Großeltern mich spüren ließen, wie wichtig ich ihnen war.
Deshalb lächelte ich Opa kurz an und lehnte mich einen Moment lang an ihn. Dass die Beiden mir die Entscheidung nicht ausreden wollten und darauf vertrauten, dass ich das Richtige tat, schätzte ich sehr.
Oma nahm meine Hand und drückte sie. Die Sorge war noch nicht aus ihren Augen verschwunden. Sie schien eher größer geworden zu sein. Doch trotzdem sagte Oma nichts und ich hauchte ihr einen Kuss auf die weiche Wange.
"Mach dir keinen Kopf", beteuerte ich, bevor wir alle nebeneinander nach Hause liefen. Über Yasmin verlor niemand mehr ein Wort.

DU LIEST GERADE
Lavendelblütenmord
Детектив / ТриллерWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...