"Blonden Jungen?", wiederholte sie.
"Er müsste etwa in meinem Alter sein, wahrscheinlich noch ein bisschen älter. Ich habe ihn gestern und heute gesehen", antwortete ich und musterte sie.
Christel legte die Stirn in Falten. Ihre eisblauen Augen blitzten kurz auf. "Den kenne ich. Er ist der Adoptivsohn des Wirts."
Der Adoptivsohn also. Und Uwe, der Wirt der kleinen Dorfkneipe, sollte nun sein Vater sein? Das konnte ich mir mit sämtlicher Vorstellungskraft nicht ausmalen. Denn Uwe gehörte eher zu der Gruppe Männer, die für ihre einsilbigen Antworten bekannt waren und nur dann aufblühen konnten, wenn sie über Autos redeten, oder mehrere Gläser Alkohol intus hatten.
"Wie heißt er?", erkundigte ich mich.
"Tristan. So hat er sich mir zumindest vorgestellt", sagte Christel und setzte sich mir gegenüber in den Sessel. Sorgfältig strich sie sich die grauen Haare aus dem Gesicht, die sich aus dem langen, geflochtenen Zopf gelöst hatten, und faltete die Hände im Schoß.
"Und wie lange wohnt er schon hier?"
"Noch nicht lange. Im Frühjahr habe ich ihn hier das erste Mal gesehen", gab Christel Auskunft.
Ich mochte ihre tiefe, ruhige Stimme. Und den Geruch nach Räucherstäbchen, der stets in der Luft hing. Seit meiner Kindheit verband ich diese Dinge automatisch mit Christel.
"Weißt du auch, wie alt er ist?" Tristan. Ich ließ mir den Namen durch den Kopf gehen. Er passte zu ihm und ich musste instinktiv daran denken, wie wir uns im Supermarkt gegenseitig angestarrt hatten.
Würde ich ihm in den kommenden Tagen noch öfters begegnen? Und falls ja, würden wir dieses Mal ein Wort wechseln? Oder stattdessen nie miteinander reden?
Doch das hielt ich für unwahrscheinlich, da ich darauf brannte, mehr über ihn zu erfahren. Vor allem, warum er an Yasmins Gedenkstätte gewesen war, obwohl diese normalerweise nur von meiner Familie und mir besucht wurde. Wenn nötig, würde ich die Informationen einfach aus ihm herausquetschen und ihn mit Fragen durchlöchern.
"Warum möchtest du das denn so genau wissen?", entgegnete Christel und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Nun lag ihr Gesicht im Dunkeln und lediglich ihre blauen Augen funkelten.
"Er hat mich heute Morgen im Supermarkt angeschaut, ohne ein Wort zu sagen. Du glaubst gar nicht, wie gruselig das war! Wir haben uns ein regelrechtes Blickduell geliefert." Unsere Begegnung beim Lavendelfeld ließ ich unerwähnt.
Nun beugte sich Christel wieder nach vorne. Ihre blasse Haut hob sich deutlich von der dunklen, übergroßen Kleidung ab, die für einen schmalen Körper wie diesen viel zu riesig war. "Hat er wirklich nichts gesagt?"
"Nein", antwortete ich und schüttelte den Kopf. "Er stand plötzlich da und hat mich angeschaut. Und dann ist er gegangen, ohne ein Wort von sich gegeben zu haben."
Christels Augen verschmälerten sich zu dünnen Schlitzen und sie stützte den Kopf in die knochigen Hände. Die blauen Adern unter der pergamentartigen Haut stachen deutlich hervor. Schweigend musterte sie mich, ehe sie ihre weite Strickjacke enger um sich schlang und sich wieder nach hinten lehnte. "Seltsam", murmelte sie kaum hörbar. "Das ist wirklich seltsam."
Fragend zog ich eine Augenbraue hoch. "Wieso denn das?"
Doch anstelle einer Antwort gab Christel nur ein leises Seufzen von sich und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Was wollte sie damit sagen? Dass Tristan seltsam war, hatte ich bereits bemerkt.
Vor meinem inneren Auge sah ich ihn erneut vor mir und auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut, als ich daran dachte, wie er auf der anderen Straßenseite gestanden und mich beobachtet hatte. Unheimlich war sein Verhalten ebenfalls.
Christel räusperte sich. "Als er die letzten Male zu mir kam, hat er geredet wie ein Wasserfall. Und er wollte alles wissen."
"Was denn?", fragte ich sofort.
"Er hat mich gebeten, es niemandem zu sagen", erwiderte Christel diplomatisch, was mich irritiert das Gesicht verziehen ließ. Mit was hatte der Junge sie denn bestochen, dass sie nichts weitererzählte? Schließlich war sie die unangefochtene Königin des Klatsch und Tratschs, sowie der gesamten Gerüchteküche.
"Mir kannst du es ruhig verraten", meinte ich und nickte, als wolle ich meine eigenen Worte bekräftigen. Lange würde ich Christel sicher nicht anbetteln müssen.
Doch zu meinem Erstaunen blieb sie auch nach weiterem Drängen hartnäckig. "Tut mir wirklich Leid, meine Liebe, aber ihm ist das sehr wichtig."
Nun hatte sie meine Neugier endgültig geweckt. Was war so wichtig, dass sie sich partout nicht dazu überreden lassen wollte, damit herauszurücken? Und bei ihr, die vertrauliche Informationen für gewöhnlich eher als Informationen fürs Schwarze Brett betrachtete, kam dies ausgesprochen selten vor. Um genau zu sein, hatte ich sie so noch nie zuvor erlebt.
"Gib mir einen Tipp", versuchte ich mein Glück erneut und lächelte herzerwärmender als jedes Kind.
Aber Christel ließ sich nicht beirren. "Wenn du das wissen möchtest, solltest du ihn am besten selbst fragen."
Ich seufzte. Wenn Tristan genau so gesprächig wie heute morgen war, würde ich kein einziges Wort von ihm erfahren. Wahrscheinlich nicht einmal sein Alter.
Prüfend musterte ich Christel noch einmal. Ausgerechnet jetzt, wenn ich mich ein Mal für etwas wirklich interessierte, war sie plötzlich auf den Mund gefallen und weigerte sich, etwas preiszugeben. Obwohl sie sonst nichts lieber tat und ihre Erzählungen jedem aufdrängte.
"Keine Sorge", sagte ich so. "Ich finde das schon heraus."
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Lavendelblütenmord
Mystery / ThrillerWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...