Kapitel 11

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Am nächsten Morgen lief ich schon möglichst früh zur Werkstatt, um der Mittagshitze zu entkommen. Von einigen Dorfbewohnern wurde ich schief angeschaut, als ich mein Fahrrad an ihnen vorbeischob.
"Platten", erklärte ich jedes Mal, wenn ich gefragt wurde, warum ich nicht einfach aufstieg und fuhr. Doch dass der Reifen nun nur noch ein schlaffer Gummiring war, durfte selbst dem Blick eines Blinden nicht entgehen.
Zum Glück hatte Oma mir mein Missgeschick gestern ebenfalls nicht übel genommen und mir geraten, gleich die Räder wechseln zu lassen. So abgenutzt wie das Profil der Reifen war, schien dies auch dringend notwendig zu sein.
Die Werkstatt lag etwas außerhalb des Dorfes und ein Schild in der Hofeinfahrt verkündete stolz, dass hier die einzige Möglichkeit zur Reparatur bestehe, weil es im Umkreis von über zehn Kilometern keine andere gab. Ein altes, rotes Auto stand in der offenen Garage, an dem ein Mann herumschraubte. Seine blaue Latzhose war ölverschmiert und er wischte gerade seine schmutzigen Hände daran ab, als ich mich ihm von hinten näherte.
"Hallo, ich würde gerne die Reifen meines Fahrrads austauschen lassen", sagte ich und er drehte sich zu mir um.
"Bist du nicht Yvonnes Tochter?", fragte er und machte ein paar Schritte auf mich zu, um mich in Augenschein nehmen zu können. Dabei runzelte er die Stirn und musterte mich, bis ich schließlich nickte.
"Ja, Isabelle", erwiderte ich und streckte ihm die Hand hin, doch er lachte nur.
"Ich glaube nicht, dass du dein T-Shirt dreckig machen möchtest", meinte er und hob einen vom vielen Öl beinahe schwarzen Finger hoch. "David, falls du dich noch an mich erinnern kannst."
Er kam mir durchaus bekannt vor und ich wusste, dass ich ihn bereits bei meinen letzten Besuchen getroffen hatte, nur war mir sein Name in der Zwischenzeit entfallen. Ich schätzte, dass er etwas jünger als meine Mutter war. Seine braunen Haare waren von vielen silbergrauen Strähnen durchzogen, ebenso sein Drei-Tage-Bart.
"Ist Yvonne auch hier?", erkundigte er sich und seine Stimme klang hoffnungsvoll. "Ich würde sie gerne einmal wiedersehen."
"Leider nicht", antwortete ich und zuckte mit den Schultern.
"Schade", murmelte er und sah für einen Moment zu Boden, bis er schließlich wieder aufschaute. "Und du brauchst neue Reifen für das Fahrrad?"
"Ganz genau", erwiderte ich und deutete auf das platte Vorderrad.
David runzelte die Stirn und beugte sich hinunter, um es besser betrachten zu können. "Ich denke, dass wir die passenden Räder da haben. Aber ich muss mich erst vergewissern, dass das auch stimmt. In der Zwischenzeit kannst du zu Pauline ins Büro gehen, damit sie das alles aufschreiben kann."
Wo sollte es denn hier in dieser winzigen Werkstatt ein Büro geben? Vor allem fragte ich mich, wozu man jemanden extra für die Buchhaltung einstellen musste, wenn es kaum Autos, Traktoren oder Fahrräder zu reparieren gab. Hier, mitten auf dem Land, verdiente man sich bestimmt keine goldene Nase damit.
Verwundert machte ich also ein paar Schritte in die Richtung des roten Autos und blieb stehen, um mich nach dem Raum umzusehen, zu dem ich gehen sollte. David rief mir zu, dass ich nur ein paar Meter nach links gehen sollte, dann würde ich mich schon direkt davor befinden.
Es roch immer nach Benzin und Motoröl, je weiter ich in die Garage hineinlief. Auf dem Boden lagen Werkzeuge verstreut und hier und da hingen fleckige Geschirrtücher, an denen sich David anscheinend stets die Hände abwischte. An der Wand lehnten Reifen in allen Größen, sowie Apparaturen, von denen ich nicht wusste, wozu sie dienten.
Zu meiner Linken erblickte ich jedoch wirklich die Tür mit der schiefen Aufschrift 'Büro', die halb von einem Traktorrad verdeckt wurde. Ich hob die Hand und klopfte zaghaft an, was allerdings von einem Klirren übertönt wurde, da David in diesem Moment seinen Werkzeugkasten nach etwas durchsuchte. Also pochte ich noch einmal mit der Faust gegen die Tür, woraufhin ein 'Herein!' erklang und ich das kleine Zimmer betrat.
Die Regale an den Wänden bogen sich bereits unter dem Gewicht der vielen Aktenordner und Papiere. In einer Ecke des Raumes stand eine Kaffeemaschine und ein Kasten mit Wasserflaschen, von denen einige bereits geöffnet waren. Die Plakate an den Wänden zeigten Formel-1-Rennwagen und deren Fahrer, von denen ich keinen einzigen kannte. Motorsport gehörte definitiv nicht zu den Dingen, über die ich gerne in der Zeitung las oder mir die Übertragungen und Berichte im Fernsehen ansah.
An dem Schreibtisch in der Mitte saß eine braunhaarige Frau, die mich über ihre randlose Lesebrille aufmerksam anschaute. Mir fielen sofort die Ähnlichkeiten zwischen ihren und Davids Gesichtszügen auf, auch wenn sie eher ein schmales, geradezu zerbrechlich wirkendes Gesicht besaß.
"Was kann ich für dich tun?", fragte sie mich, stand auf und reichte mir über den Tisch hinweg die Hand, bevor sie mir mit einer Geste bedeutete, auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz zu nehmen.
"Das Fahrrad meiner Oma hat einen Platten und braucht neue Räder", erklärte ich, nachdem ich mich niedergelassen hatte. In der Luft hing der Geruch nach abgestandenem Kaffee, Papier und Pizza. Letzteres ging von dem Teller vor mir aus, den man mit Frischhaltefolie abgedeckt hatte. Daneben stand eine Tasse, an deren Boden noch der Kaffeesatz haftete. Christel hätte daraus bestimmt etwas lesen können.
Die Frau nickte und notierte sich etwas. "Nur neue Schläuche oder sollen wir die ganzen Räder auswechseln?"
Darüber hatte ich mir bis jetzt noch keine Gedanken gemacht. Schließlich war dies auch das erste Mal, dass ich mein Fahrrad reparieren ließ, da meines zu Hause tadellos funktionierte.
"Die ganzen Räder", gab ich zurück, da Opa davon und nicht nur von den Schläuchen gesprochen hatte. Außerdem hatte das Fahrrad schon einige Jahre auf dem Buckel und es war deshalb bestimmt nicht unvorteilhaft, gleich alles austauschen zu lassen.
Sie nickte und nannte mir den voraussichtlichen Preis der Reparatur. "Morgen Nachmittag kannst du es wieder abholen. Und bitte entschuldige, dass ich so direkt frage, aber bist du Yvonnes Tochter?"
Meine Mutter schien wirklich im ganzen Dorf bekannt zu sein. Kein Wunder, nach allem, was sich vor über sechzehn Jahren ereignet hatte.
"Ja, das bin ich", erwiderte ich bereits zum zweiten Mal an diesem Tag.
"Und wie heißt du?", hakte sie nach und schob sich die Brille in die dünnen Haare.
"Isabelle." Ich lächelte schief und ließ meinen Blick über die vielen vollgeschriebenen Blätter schweifen, die vor ihr lagen.
Als sie merkte, dass ich die Papiere begutachtete, schob sie sie hastig zusammen. "Nebenberuflich arbeite ich als Autorin. Nicht wirklich erfolgreich allerdings", fügte sie noch hinzu. "Aber man hat ja genug Zeit, um sich dem Schreiben zu widmen, ein großer Andrang herrscht hier schließlich nicht gerade und man wird nicht sehr oft gebraucht."
Das konnte ich gut nachvollziehen. Angesichts der wenigen Menschen, die in der Gegend wohnten, war dies nicht wirklich verwunderlich. Wahrscheinlich verdiente sie sich mit dem Bürojob etwas Geld dazu, um sich über Wasser halten zu können.
"Wie unhöflich, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Pauline." Pauline schüttelte den Kopf, als könnte sie sich das nicht verzeihen.
"Was schreibst du denn so?", erkundigte ich mich neugierig und versuchte, einen weiteren Blick auf die Papiere zu erhaschen, die sie jedoch mit ihren Armen und Händen verdeckte.
"Dies und das", meinte sie und zuckte mit den Schultern. "Meistens Romance mit einem Touch Drama. Ein Mal habe ich mich auch schon an einem historischen Roman versucht, das war jedoch ein ziemlicher Flop und hat mir bald keinen Spaß mehr gemacht."
Wahrscheinlich war es außerordentlich schwierig, mit diesem Genre einen Verlag zu finden, da es schon endlos viele Liebesgeschichten gab und der Markt davon geradezu überflutet war. Zumindest war das der Eindruck, den ich stets gewann, wenn ich mich in der Buchhandlung umsah.
"Hört sich toll an", antwortete ich. Allerdings nicht ganz wahrheitsgemäß, sondern eher um Pauline eine Freude zu machen.
"Danke." Sofort begann sie, über das ganze Gesicht zu strahlen. "Früher war ich übrigens in derselben Klasse wie deine Mutter."
Ich musterte sie und schüttelte dann langsam den Kopf. Normalerweise erinnerte ich mich an das Aussehen jedes Dorfbewohners, doch sie kam mir gänzlich unbekannt vor.
"Habe ich dich schon einmal getroffen?", fragte ich so, um mich zu vergewissern.
"Ja, aber daran kannst du dich wahrscheinlich nicht mehr erinnern, weil du zu diesem Zeitpunkt noch ein Kleinkind warst. Während der letzten Jahre habe ich in Berlin gelebt, um mich dort dem Schreiben widmen zu können. Doch das war leider ein totaler Reinfall und so bin ich im Herbst letzten Jahres wieder hierher gezogen", erklärte sie und stand auf, um die Kaffeemaschine zu betätigen. "Aber ich kannte deine Schwester. Ihr seid euch wie aus dem Gesicht geschnitten. Und das, obwohl der Altersunterschied enorm ist!"
Mein Blick huschte zurück zu den Blättern, aber Paulines Handschrift war klein, verschnörkelt und deshalb auf dem Kopf erst recht nicht lesbar. Nur zu gerne hätte ich mir ein paar Seiten ihrer Geschichte angesehen, um danach beurteilen zu können, ob sie als Autorin zurecht erfolglos geblieben war.
"Sehr viele Leute sagen das", entgegnete ich und schaute wieder zu ihr hinüber. "Und du bist mit Mama in die Schule gegangen?"
"Nicht nur mit ihr, auch mit ein paar anderen aus dem Dorf. Aber mit ihr war ich seit unserer Einschulung bis zum Abitur in einer Klasse. Auch wenn wir in den letzten zwei Jahren nur noch die Hälfte der Kurse zusammen hatten", antwortete sie und goss sich den frischgebrühten Kaffee in eine frische Tasse. "Möchtest du auch?"
"Nein, danke", lehnte ich ab, während Pauline einen Teelöffel voll Zucker im Kaffee versenkte. Zwar hatte ich nichts gegen das koffeinhaltige Getränk, aber meistens trank ich es nur sehr früh morgens, um wach zu werden oder nachmittags, wenn ich nach der Schule todmüde nach Hause kam und etwas brauchte, was mich daran hinderte, mich im Bett zu verkriechen und bis zum Abendessen auszuruhen.
Rund um die Tasse breitete sich ein hellbrauner Fleck auf dem Manuskript aus, als Pauline sie abstellte und der Kaffee etwas überschwappte. Doch sie schien es nicht zu bemerken. "Lebst du jetzt mit deiner Mutter hier in der Nähe?"
"Nein, schon seit über fünfzehn Jahren nicht mehr", erwiderte ich.
"Vor ein paar Monaten bin ich ihr auf unserem Klassentreffen begegnet, habe aber nicht viel mit ihr reden können", meinte Pauline und sah für einen Moment nachdenklich aus. "Auf mich hat sie jedoch keinen sehr gelassenen Eindruck gemacht."
"Sie ist oft ziemlich im Stress", erklärte ich und spielte mit dem Saum meines T-Shirts. "Schließlich arbeitet sie den ganzen Tag und ich kann ihr nicht alles im Haushalt abnehmen."
Pauline nippte an dem dampfenden Kaffee und stieß nur einen Augenblick später einen leisen Fluch aus. Anscheinend war er noch zu heiß gewesen und sie hatte sich die Zunge verbrannt. "Es ist bestimmt nicht leicht als alleinerziehende Mutter."
Das war gut möglich. Mama tat wirklich stets ihr Bestes, um mein Leben so angenehm wie möglich zu gestalten und mich nicht merken zu lassen, dass der Mann an ihrer Seite, sowie meine große Schwester fehlten. Dadurch setzte sie sich oft selbst sehr unter Druck und ich wusste, wie sehr ihr alles manchmal zu schaffen machte.
"Ich gehe dann wieder. Meine Großeltern warten bestimmt schon auf mich", sagte ich entschuldigend und stand auf. Bevor Pauline ein ausführliches Gespräch über meine Familie beginnen konnte, ergriff ich lieber von selbst die Flucht. Gestern hatte ich schon mit Tristan darüber geredet und es abends nicht mehr übers Herz gebracht, die Zeitungsartikel zu lesen. Und wenn ich mir jetzt schon wieder viele Gedanken über Yasmin machte, würde ich heute ebenfalls nicht mehr dazu kommen.
"War schön, dich kennenzulernen. Denk daran, dein Fahrrad morgen abzuholen", verabschiedete sich Pauline und schüttelte mir kurz die Hand, bevor ich das winzige Büro verließ und mir der Geruch nach Motoröl mit voller Wucht entgegenschlug.
David lag unter dem roten Auto, sodass nur noch seine Füße zu sehen waren und schraubte etwas an dessen Unterseite herum. Dabei hörte ich ihn leise ein Lied pfeifen.
"Tschüss", rief ich ihm zu, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Wahrscheinlich war er viel zu vertieft in seine Arbeit und so ging ich, ohne eine Antwort abzuwarten.

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