Kapitel 23

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Vielleicht hatte es trotz der Vertrautheit zwischen Oma und Mama etwas gegeben, das Mama ihr nicht anvertraut hatte. Allerdings hatte ich keine Möglichkeit, das zu beweisen, da meine Großmutter mir nichts erzählen konnte, über das sie nicht Bescheid wusste. Aber eventuell konnte uns jemand anderes weiterhelfen.
"Wir sollten zu Merle gehen", sagte ich plötzlich, ohne selbst richtig über meine Worte nachgedacht zu haben.
Tristan schaute mich mit gerunzelter Stirn an. "Wieso denn das?"
"Nach all den Dingen, die David mir über sie erzählt hat, könnte sie als Mörderin in Frage kommen." Bei diesem Satz lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich klang schon so, als würde ich tatsächlich die Frau verdächtigen, die so oft Sachen mit mir unternommen und tagtäglich mit Kindern zu tun hatte. Schnell beeilte ich mich, fortzufahren. "Und sie könnte mehr darüber wissen, ob Mama und David nach seinem Liebesbrief eventuell zusammen waren oder sich die Beziehung der beiden verschlechtert hat. Oma ist zwar nicht der Meinung, aber es gibt immer Sachen, die man seinen Eltern verschweigt und von denen diese überhaupt nichts mitbekommen."
Tristans Blick, den er mir zuwarf, war unergründlich. Ich konnte nicht abschätzen, was er von meiner Idee hielt und ob er zustimmen würde.
Nach einer langen Pause, in der ich schon mit dem Gedanken gespielt hatte, meinen Worten noch etwas hinzuzufügen, räusperte er sich endlich. "Das klingt gut. Mit Merle habe ich bis jetzt kaum gesprochen, deshalb hoffe ich, dass sie trotzdem offen mir gegenüber ist."
"Mach dir keine Sorgen, sie arbeitet im Kindergarten und hat in nichts mehr Erfahrung, als im Umgang mit anderen Menschen. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, aber sie wird sich bestimmt freuen und uns so gut weiterhelfen, wie sie kann." Falls sie selbst nicht die Mörderin war. Doch das ließ ich unausgesprochen.
Der Gedanke, dass tatsächlich einer der Menschen, mit denen ich während der Zeit bei meinen Großeltern oft zu tun gehabt hatte, den Mord an meiner Schwester begangen haben sollte, hatte mich heute Nacht bereits gequält. Allein dadurch, dass ich sie verdächtigte, tat ich ihnen bereits Unrecht, auch wenn einer von ihnen die Tat schlussendlich tatsächlich verübt haben sollte.
Merle hatte früher oft Zeit mit mir verbracht und ich schämte mich dafür, dass ich nun ausgerechnet sie in Tristans Visier schob. Das schlechte Gewissen pikste mir mit seiner feinen Nadel in mein Herz, doch ich schob es beiseite. Seitdem Tristan mir gesagt hatte, dass vermutlich einer der Dorfbewohner meine Schwester umgebracht hatte, hätte mir definitiv klar sein müssen, dass ich auch Leute verdächtigen würde, die ich gern hatte.
"Im Endeffekt zählt nur, dass wir den Mörder finden. Alles andere ist egal", redete ich mir ein und nickte Tristan zu.
Dieser blätterte die nächste Seite des Fotoalbums um. "Kommt es dir auch auffällig vor, dass David auf so vielen Bildern zu sehen ist? Deine Mutter und er müssen eine sehr enge Freundschaft gehabt haben."
"Das stimmt", erwiderte ich. David schien wirklich wie eine Klette an ihr gehangen zu haben. Die Fotos zeigten ihn fast schon öfter als Mamas übrige Freunde.
"Er hätte wirklich ein unschlagbares Motiv", meinte Tristan und presste die Lippen aufeinander, sodass sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. "Vielleicht möchte er von sich ablenken und hat Merle deswegen erwähnt. Das wäre jedenfalls sehr clever von ihm."
"Cleverer, als den Liebesbrief an meine Mutter einfach in seinem Büro zu verstecken, wäre es auf jeden Fall", antwortete ich trocken. "Aber hat er dann schon vermutet, dass ich auf den Mörder hinauswollte?"
Als ich das aussprach, kam mir Christels Mahnung in den Sinn. Wie sie mir eingetrichtert hatte, dass wir vorsichtig sein mussten, um nicht wie Yasmin zu enden.
"Möglich ist es", sagte Tristan und machte eine wegwerfende Handbewegung. "In meinen Augen hat David noch immer den besten Grund, deine Schwester umgebracht zu haben."
Ich biss mir auf die Lippe. Konnte Davids Liebe zu meiner Mutter zugleich Yasmins Tod bedeutet haben? Ein Urteil darüber, ob ich es für ausgeschlossen oder wahrscheinlich hielt, hatte ich mir bis jetzt nicht bilden können. Dazu schwankte ich zu sehr zwischen dem Glauben an das Gute im Menschen und den Fakten, wie man meine Schwester damals getötet hatte. Einen größeren Gegensatz hätte es nicht geben können.
"Hier ist er schon wieder", riss Tristan mich aus meinen Gedanken und deutete auf ein Foto, das David und meine Mutter zeigte, wie sie lachend Arm in Arm in die Kamera schauten und einander mit Limonadenflaschen zuprosteten. Auf dem Bild waren die beiden nur unwesentlich älter als wir. Es musste also die Zeit gewesen sein, in der David ihr seine Liebesbriefe geschickt hatte.
Eine Weile lang saßen Tristan und ich noch nebeneinander auf dem Boden und schauten uns das Album an. Mir fiel wirklich auf, dass David automatisch da war, wo meine Mutter und seine Schwester Pauline ebenfalls waren. Hatte es die beiden Freundinnen etwa nicht genervt, dass er so viel mit ihnen unternommen hatte? Ich könnte es bestimmt nicht gutheißen, wenn meine Freundin ständig ihren kleinen Bruder im Schlepptau hätte.
Aber es gab auch viele Bilder mit der Dorfclique und man konnte die ausgelassene und fröhliche Atmosphäre, die damals geherrscht hatte, fast durch das Fotopapier spüren. Sie schienen sich alle sehr gut verstanden zu haben und versprühten auf jedem Schnappschuss pure Lebensfreude.
In den Momenten, in denen ich ein solches Bild betrachtete, kam es mir unmöglich vor, dass Tristan vielleicht unter einen von ihnen den skrupellosen Mörder vermutete.
"Wollen wir nun zu Merle fahren oder nicht?", fragte Tristan, nachdem wir uns alle Bilder des Fotoalbums angesehen hatten.
Ich zuckte mit den Schultern. "Von mir aus gerne."
Das schien das Stichwort für Tristan gewesen zu sein, denn er sprang regelrecht auf und strotzte nur so vor Tatendrang. Seine blauen Augen funkelten vor Energie und er hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen.
Während wir uns auf unsere Fahrräder schwangen, schickte ich ein eiliges Stoßgebet zum Himmel hinauf, dass Merle uns etwas erzählen würde, sodass wir sie aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen konnten. Aber ich hoffte, dass sie in der Lage sein würde, mir etwas zu Davids und Mamas Freundschaft zu erzählen. Schließlich war Merle sehr gut mit meiner Mutter befreundet gewesen und wusste deshalb bestimmt genau Bescheid.
Die Luft im Freien hätte einer Sauna Konkurrenz machen können und ich versuchte, möglichst kräftesparend zu radeln, um nicht völlig verschwitzt bei Merle anzukommen. Zwar war die Temperatur seit dem Mittagessen etwas gesunken, doch dieser kleine Unterschied war kaum spürbar.
"Soll es eigentlich irgendwann kühler werden?", schnaufte ich und strich eine Haarsträhne hinters Ohr, die mir beim Fahrradfahren ständig ins Gesicht hing.
"Keine Ahnung, aber das fände ich super", erwiderte Tristan.
Ich warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, während wir um eine Straßenecke bogen. Sein Gesicht war gerötet und ihm war offensichtlich genauso heiß wie mir.
Als wir endlich vor Merles Haus anhielten, fühlte ich mich so erschöpft, als sei ich nicht nur 500 Meter, sondern mehrere Kilometer gefahren. Mein T-Shirt klebte mir unangenehm am Rücken und selbst mein Blut schien zu kochen.
Im Gleichschritt liefen wir zu dem Häuschen, in dem Merle seit vielen Jahren wohnte. Der Kiesweg wurde von Kräuterbeeten eingerahmt. Von den Pflanzen war jedoch nicht mehr übrig, als ein bisschen vertrocknetes Etwas. Mein Herz schlug schneller, als ich auf den silbernen Klingelknopf neben der Tür drückte. Würde sie mich nach den letzten Jahren überhaupt noch erkennen?
Wenn ich den Worten meiner Oma tatsächlich Glauben schenkte, hatte ich mich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Ob sie das positiv oder negativ gemeint hatte, wusste ich selbst nicht, aber für gewöhnlich sprach sie so etwas nur im guten Sinne aus.
Nervös rang ich mit den Händen und wartete darauf, dass sich im Haus etwas regte. Mein eigenes, verschwitztes Gesicht spiegelte sich im Milchglas der Tür wieder und ich fuhr mir noch schnell durch die Haare, um zumindest noch einen Teil meines Aussehens zu retten.
"Es kommt mir so vor, als wäre sie nicht da", bemerkte Tristan und ich lauschte angestrengt. Doch es war nicht viel zu hören. Nicht einmal die Vögel sangen; sogar sie schienen von der Hitze so ermüdet worden zu sein, dass sie keinen Ton mehr herausbrachten.
Ich presste den Knopf neben dem Schild mit Merles Nachnamen ein weiteres Mal. "Bitte, lass sie da sein!", flehte ich stumm und faltete meine Hände wie zum Gebet. Noch länger in Ungewissheit zu schweben, ob mein Vater doch nicht Mamas einzige Liebe gewesen war, würde ich nicht noch länger ertragen. Seitdem mir dieser Gedanke gekommen war, hatte er sich in meinem Gehirn so eingenistet, dass ich ihn unmöglich daraus vertreiben konnte.
"Sie ist nicht zu Hause", wiederholte Tristan, als ich vergeblich versuchte, durch die Tür einen Blick ins Innere zu erhaschen.
Seufzend ließ ich die Schultern hängen. "Da hast du wahrscheinlich recht."
"Lass uns irgendwann anders wiederkommen und jetzt noch ein bisschen zu mir gehen", schlug Tristan vor.
Zwar willigte ich ein, aber ich verließ Merles Grundstück nur sehr ungern. Ich hätte sie sehr gerne nach so langer Zeit gesehen und ihr Löcher über David und meine Mutter in den Bauch gefragt. Der Gedanke, noch länger auf eine sichere Antwort warten zu müssen, erschien mir unerträglich.
Als wir die Gaststätte betraten, fühlte ich mich noch erschöpfter als zuvor. Außerdem war ich enttäuscht, Merle nicht getroffen zu haben. Ich hatte mich sowohl darauf gefreut, sie wiederzusehen, als auch auf eine Antwort auf meine Frage.
"Tristan?", hörte ich Uwe aus der Küche rufen.
"Warte einen Moment, ich komme gleich zurück", meinte Tristan und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und ließ mich auf einem der Holzstühle nieder. Im Inneren des Hauses war die Hitze noch erträglich und ich schloss einen Moment lang die Augen. Irgendwo im Raum surrte eine Fliege und ich konnte leise Stimmen aus der Küche vernehmen.
"Tut mir Leid, Isabelle", sagte Tristan, kaum dass er die Gaststube betreten hatte. "Uwe hat mich gebeten, ihm noch beim Vorbereiten für die Gäste nachher zu helfen."
"Ich helfe gerne mit", beteuerte ich sofort. Dann konnte ich mich wenigstens etwas von den vielen offenen Fragen ablenken.
"Das musst du nicht. Danke für das Angebot", antwortete er und lächelte mir zu.
"Nein, wirklich." Ich stand auf. "Was soll ich tun?"
Tristan schien etwas überrumpelt zu sein, denn er brauchte ein paar Sekunden lang, um den Mund aufzumachen. "Du kannst die Gläser hinter dem Tresen einsortieren." Er winkte mich zu sich und erklärte mir, welches Glas wo seinen Platz hatte.
So verbrachte ich die nächste halbe Stunde damit, Bier, Wein und Wassergläser in den Schrank einzuräumen und neben dem Zapfhahn zu platzieren. Ob Merle vielleicht nach der Arbeit hierherkam, um ein Feierabendbier zu trinken oder noch etwas Warmes zu essen? Oder David?
Mein Herz beschleunigte sein Tempo etwas, als ich lediglich an die beiden dachte. Bei Merle mehr aus Freude und Aufregung, bei David mehr aus Angst und Unsicherheit, wie ich ihm gegenübertreten sollte.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt