Kapitel 35

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Alles sah noch genauso aus, wie vor fünf Jahren. Der vereiste Brunnen, der Kronleuchter über dem spiegelglatten Boden der hohen Halle, die Treppen mit ihren filigranen Geländern... Der kühle Duft des Eises durchströmte ihre Atemwege, während sie sich ehrfürchtig an diesem Ort der Erinnerungen umsah. Von außen hatte der Palast etwas verfallen ausgesehen, doch im Inneren strahlte er noch immer die gleiche Anmut aus wie am ersten Tag. Abgesehen von der großen Eingangshalle befand sich unter der Treppe noch eine Tür, hinter der ein Raum lag, den Elsa noch nie zuvor betreten hatte. Dazu war sie damals einfach zu kurze Zeit hier gewesen.
Nun trat sie in genau diesen und erblickte ein kleines leerstehendes Zimmer.
Hier würden sich einige Möbel sicher gut machen., dachte die Eiskönigin bei sich und mit einem Wink ihrer Hände standen dort Tisch, Stuhl, Schrank und Bett, allesamt aus blau schimmerndem Eis. Hier würde sie wohl die nächsten Tage verbringen, oder sogar noch länger verweilen. Sie war sich noch nicht sicher. Die junge Königin hatte nun wieder einen Raum zum Leben. Sie war sich bewusst, dass der eisige Palast deutlich mehr Platz bot als diese kleine Kammer, doch in den anderen Räumen steckten so viele Erinnerungen an ihr vorheriges, glücklicheres Leben, dass sie sich nicht einmal traute, die Treppen hinaufzugehen. Elsa hatte schon so genug mit ihren Gefühlen zu kämpfen.
Sie musste nun wieder an den heutigen Morgen denken. Jack, der mit ihr reden wollte, das Entdecken einer weiteren eigenen Fähigkeit, Annas Briefe... Soviel war schon passiert, was Elsas angegriffener Seele noch weiteres Leid zufügte.
Betrübt setzte sich die Hüterin der Liebe auf das Bett aus Eis. Damals an ihrem Krönungstag hatte sie beinahe unbegrenzte Angst verspürt, die sie innerlich so sehr zerriss, dass die frisch gekrönte Königin geglaubt hatte, ihr Leid könne nicht größer werden, doch da hatte sie falsch gelegen. Anna nicht sehen zu können aus Angst um ihr Wohlergehen hatte alles nur noch unerträglicher werden lassen, doch ihre Schwester hatte sie durch ihre starke Liebe erlösen können. Nun war es anders. Ja, Elsa flüchtete wieder vor ihrem Leben, doch diesmal nicht um das kleine rothaarige Mädchen zu schützen. Nein, sie floh vor denjenigen, die sie aus tiefstem Herzen geliebt hatte. Sie wollte einfach keinen Schmerz mehr spüren. Die Qual bei den Hütern war einfach zu groß gewesen. Sie musste sich verstecken, keiner sollte sie finden. Aber wo sollte sie nur hin? Hier war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie finden würde. Ob Anna, die Hüter oder Bale war dabei egal. Jeder von ihnen würde unbeschreibliche Qualen in der Eiskönigin auslösen...
Wieder einmal realisierte Elsa, wie zerstört, wie brüchig ihr Leben geworden war. Wie kaputt sie tief in sich war... Alles war doch einmal so perfekt gewesen. Warum hatte es nicht so bleiben können? Warum musste ausgerechnet sie eine Hüterin sein? Warum war sie so leichtgläubig gewesen, hatte Jack vertraut und Anna dafür zurückgelassen? Hatte sich nicht schon genügend Unglück durch ihr Leben gezogen?
Von diesen Gedanken geschwächt, ließ sie sich auf die weiche Schneedecke sinken.
Nicht weinen, Elsa! Nicht schon wieder..., sprach sie sich selbst zu, Du musst stark sein!
Und tatsächlich funktionierte es. Die starken Schmerzen verschwanden allmählich, doch eine innere Melancholie blieb. Ihr Leben war zerbrochen, ihre Existenz sinnlos, das ließ sich nicht leugnen. Nicht einmal zum Beschützen ihrer Schwester reichte ihre Kraft, geschweige denn zum Verteidigen aller Kinder, so wie es die Hüter von ihr verlangten...

Viel zu lange war er nicht mehr hier gewesen. Beinahe fünf Jahre war es nun her. Die alte Weide stand noch immer unverändert ein Stück vom Ufer des Sees entfernt, bewegte ihre langen Äste, die nun saftig grüne Blätter trugen, im Wind und schlang ihre dicken Wurzeln um einige Steine. Der See funkelte, spiegelte das Sonnenlicht wieder, das heiter auf seiner Oberfläche tanzte. Es sah so frei und unbeschwert aus. Wäre die Welt doch auch so...
Seufzend setzte er sich auf seinen gewohnten Platz in den Ästen der Trauerweide und begann zu grübeln. Wo konnte Elsa nur hin verschwunden sein? Was für Orte kamen in Frage?
Elsa will allein sein und hat sich zurückgezogen, doch wohin? Bei North war sie nicht..., ging Jack Frost die Optionen durch, ... und im Schloss ist es eigentlich auch zu riskant für sie. Dort würde sie niemals ihre Ruhe haben. Man würde ihr sicher Fragen stellen. Aber oben auf dem Nordberg, dort kommt so schnell niemand hin...
Aber war dieser Ort nicht zu offensichtlich? Elsa hatte dort ihren Palast erschaffen und jeder der das wusste, würde sie dort zuerst suchen, oder? Dieses Risiko würde die Hüterin sicher nicht eingehen...
Da der Wintergeist aber sonst keine Idee hatte, wo er mit seiner beginnen sollte, rief er nach kurzem Zögern den Wind und wies diesen an, ihn schnellstmöglich zum höchsten Punkt des Gebirges zu bringen. Er musste Elsa finden und die Zeit rannte ihm davon. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Großen Vier die Abwesenheit der beiden Hüter bemerken würden und auch die Dunkelheit würde mit einem Angriff nicht ewig warten.

Elsa wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Bett saß und einfach nur die Wand auf der anderen Seite anstarrte. Wieviel Zeit war wohl vergangen? Tage? Wochen? Oder vielleicht doch nur Stunden? Sie hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren... Sollte sie aus der kleinen Kammer gehen und nachsehen, ob es Tag oder Nacht war? Nein, lieber nicht. Dafür war es noch zu früh. Die Eiskönigin fühlte sich einer erneuten Konfrontation mit dem Anblick der großen Halle und den damit verbundenen Erinnerungen und Emotionen noch nicht gewachsen.
Bleib lieber noch einige Zeit hier...
Plötzlich hörte sie das Grollen des massiven Eingangstors. Jemand musste gerade ihren Palast betreten haben, doch wer sollte das sein?
Panik stieg in ihr auf. Sie durfte von niemandem gefunden werden! Was sollte sie nun tun? Die Person, wer auch immer es war, vertreiben? Nein, dann würde sie sicher ihre Anwesenheit hier verraten. Fliehen? Sie wusste nicht wohin.
Hektisch sah sich die Königin um. Was blieb ihr denn sonst noch übrig? Aus der kleinen Kammer gab es keinen zweiten Weg hinaus...
"Elsa?", rief eine Stimme, die an den Wänden des Palastes widerhallte, nach ihr, "Elsa, bist du hier? Bitte zeig dich!"
Die junge Hüterin erkannte die Stimme sofort. Die Erkenntnis, dass Jack dort draußen war, nur eine Tür von ihr entfernt, ließ sie noch panischer werden. Wie hatte er sie gefunden und das so schnell? Warum suchte er überhaupt nach ihr, wenn sie ihm doch egal war, so wie Bale es sagte?
Vielleicht... Vielleicht bedeute ich ihm ja doch etwas..., huschte es durch den Kopf der Eiskönigin.
Augenblicklich schüttelte sie ihn mit Tränen in den Augen.
Nein, bestimmt nicht. Er hätte alles getan, damit es mit gut geht. Jack ist sicher nur hier, um mir weitere Schmerzen zuzufügen.
Elsa versuchte lautlos zu atmen. Er durfte sie nicht finden. Mit etwas Glück würde die Kammertür für den Wintergeist unentdeckt bleiben. Nur keinen Laut von sich geben...

Eilig musterte er die gesamte Umgebung.
"Bitte! Ich will dir nichts tun. Nur reden, ich möchte nur mit dir reden.", rief er in die leere Halle hinein.
Keine Antwort.
Entweder sie war nicht hier, oder Elsa versuchte unentdeckt zu bleiben.
Missmutig suchte er weiter. Hier unten schien niemand zu sein, konnte er in der gut einsehbaren Halle doch niemanden erkennen. Jack Frost schwebte die lange Eistreppe hinauf zu dem Ort, an dem vor vielen Jahren der imposante Kronleuchter hinunter gestürzt war. Ob es dort immer noch so aussah, wie er es damals verlassen hatte?
Der Wintergeist durchflog die nächste Eistür und erblickte all das, was er vor fünf Jahren hier zurückgelassen hatte. Alle Eisspitzen, Splitter und dünnen Wände waren noch an ihren ursprünglichen Plätzen. Jeder, der neu diesen Ort betrat, würde sich wohl fragen, wie er in diesen zerstörten Zustand gelangt war, doch Jack tat das nicht. Er war damals dabei gewesen, hatte den Kampf beobachtet, den Elsa hatte führen müssen, und hätte sie beschützt, wenn dies nötig gewesen wäre. Ja, er hatte sie nur in Sicherheit wissen wollen, hatte alles für ihr Wohlergehen tun wollen und hätte sogar sein Leben für ihres gegeben, doch er hatte genau das Gegenteil erreicht. Anstatt Elsa glücklich zu machen und sie angemessen auf Bale vorzubereiten, hatte der Wintergeist ihr Schmerzen zugefügt, sie so tief verletzt, dass nun jeder Mensch dieser Erde in Gefahr schwebte. Bale würde nicht einen Moment zögern, sie alle zu vernichten und sie Hüter hatten schlechte Chancen ohne die Trägerin der Urhüterseele gegen ihn anzukommen.
Jack senkte seinen Kopf.
Elsa ist nicht hier. Ich sollte im Schloss weitersuchen..., entschloss er sich betrübt und stellte sich ein letztes Mal auf den zersplitterten Balkon.
Hoffentlich finde ich in Arendelle Hinweise...
Der Hüter des Lachens sprang in die Luft, durchflog die kalten Wolken und schwebte hinab ins Tal.

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt