Kapitel 32

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Schwindel überkam sie und ein tiefes Schwarz überflutete ihren Geist. Sie konnte nichts mehr sehen, doch das war ihr egal. Elsa hätte sowieso die Augen geschlossen, ertrug sie doch den Anblick des Zimmers am Nordpol nicht mehr. Ihr Kopf sirrte und das Schwindelgefühl nahm noch mehr zu, als ihre Augen wieder ihren Dienst taten. Die Königin konnte nicht glauben, was sie gerade sah. War das alles nur ein trügerischer Traum, eine Illusion? Spielte ihr Kopf ihr wieder einen Streich? Aber es war so realistisch, fühlte sich so echt an... Wie die Rothaarige dort lag mit ihren langen, zerzausten Haaren, Kristoff nah an sie gekuschelt, und schlief. Sie hörte sogar ihren Atem in der Stille. War das wirklich Realität? Sie hatte sich das doch so sehr gewünscht...
So leise wie möglich schritt sie Eiskönigin auf das große Himmelbett der beiden zu. Wie war sie hierher gekommen? Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war ihr Schmerz und die Stimme des Wintergeists, die besorgt und doch rücksichtslos auf sie einredete. Elsa spürte noch immer die eisigen Tropfen auf ihren Wangen, die allmählich verschwanden.
Um ihre Lippen schmiegte sich ein leichtes Lächeln. Es tat gut, endlich einmal wieder ihre Familie zu sehen. Wie glücklich Anna und Kristoff doch waren...
Nun stand die junge Hüterin direkt neben ihr und beobachtete sie sanft lächelnd. Wie gern würde sie mit ihrer kleinen Schwester reden, doch das ging nicht. Anna würde zu viele Fragen stellen.
Ihre Hand näherte sich dem fuchsroten Haar, das widerspenstig nach allen Seiten abstand. Genau so hatte die junge Frau ihre kleine Anna in Erinnerung. Ihre Finger spürten das weiche Haar. Sie genoss die Nähe, auch wenn die Rothaarige von all dem nichts mitbekam.
In sich bemerkte Elsa den unwiderstehlichen Drang, ihrer Schwester beruhigende Worte zuzuflüstern. Sie musste sich doch die ganzen Jahre über unglaubliche Sorgen gemacht haben, schließlich hatte ihre ältere Schwester sie gerade dann verlassen, als alle geglaubt hatten, die Königin inbegriffen, es wäre alles gut und das Leben würde von nun an in geregelten Bahnen verlaufen. Doch Elsa war nie zurückgekehrt...
"Hab keine Angst.", schlichen sich die Worte hauchend über ihre Lippen, "Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen."
Ihre Stimme klang schwach und Tränen schwangen darin mit. Wie hatte sie das ihrer Schwester nur antun können? Das Verlassen ihres Königreichs war das törichste, was sie je in ihrem ganzen Leben getan hatte, zusammen mit dem Vertrauen in Jack und Bale. Sie hätte sich nie darauf einlassen sollen, hätte nie den tiefen ozeanblauen und den geheimnisvoll goldenen Augen nachgeben dürfen...
Wieder rannen ihr stumme Tränen aus den Augenwinkeln, doch die junge Frau bemerkte gleichzeitig, wie Anna zufrieden im Schlaf lächelte, als sie ihre Worte hörte. Eigentlich hätte dieser Anblick ein gewisses Glücksgefühl in der Eiskönigin auslösen sollen, doch er bewirkte das Gegenteil. Ihr Herz wurde mit einem weiteren der mittlerweile unzählbaren Stiche versetzt und erwiderte diesen mit einer aufkeimenden Sehnsucht nach Erlösung aus ihrem Schicksal.
Elsa wollte die beiden nicht stören, erst recht nicht durch einen ihrer unkontrollierten Schluchzer. So tat sie einige Schritte rückwärts, bevor ihr die Frage in den Sinn kam, was sie nun tun sollte. Die Königin wollte nicht zurück zu den Hütern und selbst wenn, sie hätte es nicht gekonnt. Sie wusste ja nicht einmal, wer oder was sie hierher gebracht hatte...
Nach einiger Zeit des schweigenden Dastehens beschloss sie, einen Blick in ihr früheres Zimmer, ihren damaligen Rückzugsort, zu werfen. Sie wusste zwar nicht, ob es diesen überhaupt noch gab, aber Elsa wollte sich zumindest versichern, dass Anna ihren neuen Aufgaben als Regentin von Arendelle gewachsen war. Sie wunderte sich ohnehin, dass die beiden noch in Annas altem Kinderzimmer schliefen. Doch wie sollte die junge Frau zu dem Zimmer gelangen, ohne auf den Fluren des Schlosses für Aufregung zu sorgen? Sie konnte es sich jetzt nicht leisten, von irgendjemandem gesehen zu werden. Zu viele Fragen würde es aufwerfen, die sie allesamt nicht beantworten konnte. Zwar würde Elsa nie wieder mit den Hütern gemeinsam leben und mit ihnen kämpfen, doch das hieß noch lange nicht, dass sie ihr Versprechen gegenüber North brechen würde. Niemand sollte von ihnen erfahren, außer der Kinder.
Fieberhaft überlegte die Hüterin, welche Alternativen es zu den edlen Gängen des Schlosses gab. Wieder stellte sie sich die Frage, wie sie nach Arendelle gelangt war, ohne es selbst zu bemerken. Vielleicht war dies der Weg nach dem sie suchte...
Angestrengt dachte die Eiskönigin nach. Jack, er hatte sie zur Rede stellen wollen... Sie hatte ihn nicht sehen wollen, war in ihrem Schmerz versunken, den sie noch immer tief in sich spürte, und hatte geweint.
Das hilft mir nicht weiter. Das Letzte woran ich mich erinnern kann, ist meine Verzweiflung und der Wunsch, hierher zu kommen. Da war niemand und nichts Außergewöhnliches, das meinen Wunsch erfüllt haben könnte... Niemand außer mir..., brach sie ihren Gedankengang schließlich ab.
Das konnte nicht sein, oder? War sie es selbst gewesen, die sich in dieses Zimmer gebracht hatte? Nur wie?
Wieder überlegte Elsa angestrengt. Ihr Wunsch... Da war ihre starke Sehnsucht nach ihrem alten Leben gewesen...
Vielleicht ist es das? Vielleicht kann ich meine Wünsche wahr werden lassen..., ahnte sie.
Die schöne Frau beschloss, es auszuprobieren, denn es war schon spät. Anna und Kristoff würden sicher bald erwachen und dann sollte sie nicht hier sein.
Sie entfernte sich weiter von dem Bett des Pärchens, schloss ihre Augen und wünschte sich, ihr altes Zimmer einmal wiederzusehen.
Sie bemerkte nur noch, wie der Schwindel erneut einsetzte...

Verschwunden, sie war einfach verschwunden. Aber wohin und wie?
Jack Frost grübelte schon einige Stunden darüber nach. Immer und immer wieder schaute er zu der Ecke hinüber, in dem der Eisstern geleuchtet hatte. Auch er war nicht mehr dort. War es möglich, dass... Nein, das konnte nicht sein. Elsa hätte ihm doch davon erzählt, wenn sie noch andere Fähigkeiten außer dem Eis hätte... Also wie war sie aus ihrem Zimmer gelangt, obwohl er die gesamte Zeit davor gestanden hatte und sie weinen hörte?
Das Fenster., fiel es ihm ein.
Aber auch das war nicht möglich. Es war von innen verschlossen.
Und was bleiben sonst noch für Möglichkeiten? Jack, denk nach!
Erst jetzt realisierte der Wintergeist so richtig das Ausmaß der jetzigen Situation. Die Eiskönigin war gegangen, vermutlich sogar aus freien Stücken. Wenn das der Fall sein sollte, würde sie nie wieder zurückkehren, dafür saß der Schmerz wohl zu tief. Nie mehr zurück zu den Hütern, nie mehr zurück zu ihm...
Diese Erkenntnis erdrückte ihn noch mehr als alles andere zuvor. Er hatte sie zwar nicht sehen dürfen, doch nun konnte er es nicht mehr, selbst wenn es der junge Hüter wollte. Es schmerzte Jack noch mehr als die Gewissheit, Elsa nie lieben zu dürfen obwohl er es tat. Er hatte sich immer damit getröstet, sie in seiner Nähe zu wissen, doch nun war nicht einmal mehr das möglich.
Jack Frost spürte ein unbestimmt mächtiges Drücken an seiner Kehle. Er konnte kaum noch atmen, so sehr belastete es ihn. Ihre roten, zarten Lippen, ihr Lächeln, die wundervollen Augen, ihr seidiges Haar... Nichts davon würde er jemals wieder erblicken, wenn er sie nicht fand.
Wasser schoss in seine Augen, Tränen bemächtigten sich seines Blickes, doch er wollte nicht weinen. Er musste nach vorn blicken, den anderen Hütern beim Ankämpfen gegen die Dunkelheit helfen und versuchen zu ergründen, was es mit Bale auf sich hatte.
Was hat Elsa so schockiert, als sie ihn sah und seinen Namen hörte? Kennen sie sich?, rätselte der Wintergeist.
Er hatte ihre Augen gesehen, ihren Blick, wie er starr auf dem Erzfeind der Hüter lag, aber es war kein Hass, keine Missachtung darin gewesen. Nein, die junge Königin hatte ihn entsetzt und irgendwie überrascht angesehen. So, als war ihr sein Gesicht schon lange Zeit bekannt...
Wieder krampfte sich sein Magen zusammen. Diese grausam erschreckende Erkenntnis konnte der Weißhaarige nicht so recht verarbeiten. War es wirklich möglich, dass die beiden schon Bekanntschaft miteinander gemacht hatten und diese, der gestrigen Reaktion der Eiskönigin zufolge, garnicht negativer Art gewesen ist?
Nein, das ist nicht möglich. Elsa hätte mir doch davon erzählt..., oder?, unterbrach er seine eigenen Gedanken.
Erneut realisierte er, wie weit er sich mit den Jahren von der wunderschönen Frau entfernt hatte. Sie waren sich so nah gewesen, sie hatte ihm so vieles anvertraut und Jack hatte dies mit seiner törichten, abweisenden Reaktion zunichte gemacht. Reue. Das war es, was er nun empfand. Der Wintergeist hatte zu spät beschlossen, mit ihr über seine wahren Beweggründe zu sprechen. Zu spät, denn nun war sie fort. Wohin wusste er nicht, doch er würde sie suchen. Allein. Jack Frost hatte nicht vor, die anderen Hüter mit der Nachricht über das Verschwinden der Eiskönigin zu beunruhigen. Es lag an seiner Dummheit, dass diese Situation überhaupt zustande gekommen war, und so war es auch allein seine Aufgabe, Elsa wieder zurückzuholen. Kein Wort würde er an sie verlieren, nicht einmal an Tooth. Sie würde ihm sicher bei der Suche helfen wollen, doch das war eine Sache zwischen dem Wintergeist und der jungen Hüterin. Sicher, die Zukunft aller Kinder lastete dann allein auf seinen Schultern, aber wenn man es recht bedachte, tat sie das schon die ganze Zeit. Er hatte Elsa verletzlich gemacht, sie verändert und er musste sie auch zurückbringen.

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt