Kapitel 9

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Die Musik spielte fröhlich und der ganze Ballsaal tanzte vergnügt. Die frisch gekrönte Königin stand im vorderen Teil des Saals und beobachtete das bunte Treiben. Neben ihr stand ihre Schwester Anna, verlegen und zurückhaltend.
Elsa beschloss, die Distanz zwischen ihnen zu brechen: "Hallo."
Verwirrt blickte sich ihre Schwester um.
"D-Das 'Hallo' ging an mich?", fragte sie verdutzt.
Elsa schmunzelte und nickte.
"Oh hallo.", sagte sie verlegen.
"So feiert man also ein Fest.", seufzte die Königin.
"Es ist wunderschön.", lächelte Anna, "Ich wünschte, wir hätten immer so viel Spaß."
Als Elsa diese Worte aus dem Mund ihrer Schwester hörte, blitzten Erinnerungen und ihr auf: Anna, die von einem Eisblitz getroffen wird, ihr lebloser Körper in Elsas Armen, die entsetzten Blicke ihrer Eltern, ihre Angst...
"Ja das wäre schön. Aber das geht nicht, Anna.", antwortete Elsa streng auf Annas Begeisterung und drehte sich von ihr weg.
Verwirrt und enttäuscht entgegnete sie: "Entschuldige mich bitte einen Augenblick.", und tauchte in der tanzenden Menge unter.
Kurz schaute Elsa ihr bedauernd nach, doch dann beschloss sie, sich wieder mit einem lächelnden Gesichtsausdruck zu zeigen. Ab und an wurde sie von einem Adligen angesprochen, doch das interessierte sie nicht wirklich. Ihre Gedanken kreisten um ihre Schwester, die sie wieder enttäuscht hatte, und um das Versprechen, welches ihr Begleiter ihr gegeben hatte. Du wirst nie wieder Angst haben, hatte er gesagt. Sie hoffte so sehr, dass er Recht haben würde.
Mitten in ihren Gedanken sprach sie jemand an: "Eure Majestät?"
Erstaunt blickte sie den kleinen schwarzhaarigen Mann mit Bart an. Er trug eine blau-goldene Uniform, schwarze Schaftstiefel und stand ihr in einer aufrechten Haltung gegenüber. Es musste wohl ein weiterer von Arendelles Handelspartnern sein, so, wie der seltsame kleine Herzog von Pitzbühl mit seinen unbeherrschbaren Tanzkünsten.
Der schwarzhaarige Herzog redete schon eine ganze Weile mit ihr, doch Elsa hörte nicht richtig zu. Er schien es zwar nicht zu bemerken, aber sie langweilte sich ungemein, und so war sie auch heilfroh, als Anna sie aus dieser unangenehmen Situation befreite.
"Ich möchte dir... ich meine, ich möchte ihnen jemanden vorstellen.", sprach sie aufgeregt und Elsa folgte ihr, nicht ohne sich vorher bei ihrem Gesprächspartner zu entschuldigen.
Kaum hatte sie sich endgültig Anna zugewandt, stand diese auch schon unmittelbar vor ihr, an ihrer Seite ein junger rothaariger Prinz, bekleidet mit einer weißen Uniform.
"Das ist Prinz Hans von den Südlichen Inseln.", stellte Anna ihn überglücklich vor.
"Eure Majestät.", verbeugte sich Hans.
"Er... Wir...", gluckste die Rothaarige, "Wir erbitten deinen Segen für..." Beide guckten sich verträumt an. "... für unsere Hochzeit!", quietschte Anna.
In Elsas Gesicht spiegelte sich die Überraschung wider.
Sie kennt ihn doch garnicht, Elsa. Sie hat ihn heute das erste Mal getroffen. Was weiß sie schon über ihn? Du darfst deinen Segen nicht geben! Anna wird mit ihm nicht glücklich sein., riet ihr die raue Stimme.
Er hatte Recht. Warum sollte sie zulassen, dass ihre Schwester jemanden heiratete, den sie nicht kannte? Womöglich nutzte er sie nur aus.
"Anna, kann ich dich mal kurz sprechen? Allein.", war ihre einzige Antwort, doch Anna blieb stur.
"Egal, was du zu sagen hast, du wirst es uns beiden sagen müssen."
Nun gut. Sie will es nicht anders. Sag es ihr!, bekräftigte ihr Begleiter.
"Anna, es wird keine Hochzeit geben.", erklärte Elsa kühl, "Ich werde euch den Segen nicht geben."
"Was?!", äußerte Anna entsetzt.
"Eure Hoheit, wenn ich euch besänftigen darf...", begann Prinz Hans zu reden und startete den Versuch, die Situation zu retten.
"Nein, das dürft ihr nicht!", unterbrach Elsa ihn streng, "Sie sollten jetzt besser gehen. Das Fest ist vorbei, schließt die Tore!", wies sie eine der Wachen im Vorbeigehen an.
"Elsa!", schrie Anna ihr hinterher und erwischte sie noch mit einer Hand, doch die wütende Königin lief einfach weiter. Anna lockerte ihren Griff aber nicht, so dass sie den Handschuh ihrer Schwester von deren Hand zog.
Sofort füllte sich Elsas Kopf mit Panik und ihr innerer Sturm begann zu wüten. Verzweifelt schnappte sie nach ihrem Handschuh, doch Anna zog ihn weg, dann lief sie rückwärts in Richtung Tür.
"Warum, Elsa? Was habe ich dir je getan?! Ich kann nicht mehr so leben, verstehst du?", schrie die Prinzessin sie an.
"Hör jetzt auf, Anna!", versuchte Elsa sich und ihre Gäste zu schützen. Sie eilte zur Tür, bevor sie noch jemanden verletze.
Beruhige dich! Alles wird gut.
Sie hätte so gern auf ihn gehört, doch ihr Innerstes war so in Aufruhr, dass sie es nicht besänftigen konnte.
Anna wollte nicht auf sie hören und redete aufgebracht auf sie ein: "Warum schließt du immer alle aus?! Wovor hast du nur solche Angst?"
"Ich sagte, hör auf!!!", schrie die junge Königin, während sie sich mit einem Schlag abwehrend zu ihrer Schwester umdrehte.
Losgelassen von ihrer Wut, schossen Eisblitze aus ihrer nackten Hand und bildeten einen schützenden Halbkreis aus Eisspitzen um Elsa, die die Gäste von ihr abgrenzten. Noch im selben Moment realisierte die Hüterin, was sie getan hatte, und die Wut wich wieder der Angst. Panisch blickte sie in die erstaunten Augen ihrer kleinen Schwester, griff, rückwärts tastend, nach dem Türknauf, öffnete diesen und rannte, von ihrer Furcht getrieben, aus dem Schloss.
Lass sie nicht an dich ran!, bekräftigte die Stimme in ihrem Kopf ihre Angst.
Als sie draußen von ihrem Volk erwartet wurde, fühlte sie sich noch bedrängter. Sie wollte rennen. Weit, weit weg von all dem Leid, all der Angst, all dem Schmerz. Eine kurze Berührung genügte und der Springbrunnen hinter ihr gefror. Alles ging so schnell. Elsa hatte nicht bemerkt, dass der Herzog und seine Wachen ihr gefolgt waren.
"Da ist sie, das Monster!", schrie er in einem aggressiven Tonfall und zeigte mit einem Finger auf sie.
"Kommt mir bitte nicht zu nahe!", versuchte sie ihn zu beschwichtigen.
Ohne, dass sie es kontrollieren konnte, löste sich ein weiterer Eisblitz von ihrer Hand und schleuderte die Männer beiseite. Ihr Sturm wurde immer stärker und ihre Angst immer zerfressender. Sie rannte weiter, aus dem Schloss hinaus zum Ufer des Fjords.
Elsa, folge den Schatten! Sie werden dich dorthin führen, wo du frei sein wirst. Dort warte ich auf dich.

Der Krönungstag neigte sich dem Ende, Elsas großer Tag war schon fast vorbei. Es dämmerte bereits. Jack hatte sich, wie versprochen, nicht vom Fleck gerührt, doch er langweilte sich.
Die Feier war bestimmt traumhaft, Elsa war sicher atemberaubend schön anzusehen..., malte er sich verträumt aus. Ob mir die Hüter wohl davon erzählen werden? Was sie wohl gerade sehen?
Neugierig war er schon und er spielte auch einen Moment mit dem Gedanken, einen kurzen Abstecher auf den Ball zu machen, doch sein Verstand verbot es ihm.
Du bleibst schön hier, Jack! Mach jetzt nichts kaputt!
Seufzend stand er auf und lief unruhig hin und her. Dabei bemerkte er, dass der Boden unter seinen Füßen immer kälter wurde, das Gras immer härter und der Himmel grauer und grauer.
Seltsam... Bin ich das gewesen?, grübelte er.
Glitzernde weiße Flocken tanzten umher. Zart berührten die filigranen Eiskristalle seine ausgestreckte Hand.
"Hm...", dachte er nach.
Ich muss nachsehen, ob es nur hier schneit., beschloss er und ließ sich vom Wind über die Baumwipfel tragen. Er sah, dass der Winter im ganzen Land Einzug gehalten hatte, obwohl es doch Sommer war.
Nein, das kann ich nicht gewesen sein. Das hätte ich bemerkt., stellte er fest. Jack wusste, wer dafür verantwortlich war, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso sie das getan hatte.
Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen., schoss es ihm durch den Kopf.
Nein, nein. Das kann nicht sein. Die Hüter sind ja bei ihr. Sie hätten sie beschützt..., beruhigte er sich, Sie wollen ja auch nicht, dass sie stirbt.
Jack schwebte wieder zu Boden. Als seine Füße auf der Teichoberfläche aufsetzten, war dieser schon leicht gefroren. Er konnte mit zusehen, wie sich alles um ihn herum in ein winterliches Weiß hüllte.
Ihre Kräfte sind atemberaubend, viel schöner als meine...

"North, was machen wir denn jetzt?", fragte die Zahnfee entsetzt.
"Ja genau, Keule. Sie geht uns verloren! Wir MÜSSEN etwas unternehmen!", unterstützte der Osterhase die Bedenken der Zahnfee.
"Geduld, Geduld.", sprach North beruhigend, "Wir folgen ihr und dann wir sehen weiter. Sie wird es schaffen. Sie stärker, als Angst, sie es nur noch nicht wissen."
"Und Jack?", wollte Toothiana wissen.
"Ja, er wird den plötzlichen Umschwung wohl mitbekommen haben. Am Besten, es sieht jemand mal nach ihm. Nicht, dass er noch etwas anstellt."
"Du Recht, Hasemann. Sandy? Du können das übernehmen?", fragte der Weihnachtsmann.
Stumm nickte er nur.
"Gut. Dann los!", rief North Pole aus, "Elsa haben schon gewaltigen Vorsprung. Aber wir müssen laufen, sonst Risiko aufzufallen zu groß."
Während sich North, Hase und Tooth daran machten, die junge Königin einzuholen, begab sich der Sandmann auf einer goldenen Wolke zu Jack Frost. Doch kurz bevor er in sein Blickfeld kam, glitt Sandy zu Boden und lief den restlichen Weg. Dabei sah er sich bewundernd die, mittlerweile gefrorene, Landschaft an. Alles um ihn herum glitzerte wie Diamantenstaub, der Boden schimmerte blau. Es musste wohl kalt sein, aber Kälte hatte Sandy noch nie empfunden, ebensowenig wie Hitze.
Schon berührten die ersten Eistropfen, die an den Zweigen der Trauerweide hingen, seine Haare. Er war da.
Der Sandmann suchte kopfdrehend nach dem jungen Hüter. Auf dem Baum saß er nicht, am Seeufer war er auch nicht zu sehen. Wo steckte er bloß? Er war doch nicht etwa zum Schloss geflogen? Sandy schaute sich noch einmal genauer um. Nichts. Er war wirklich weg...

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt