Die weiße Holztür schloss sich hinter ihr.
Elsa hörte nur noch, wie sich seine Schritte wieder den Gang hinab bewegten. Noch immer durchfuhr sie dieses Kribbeln, dass er bei ihr hinterlassen hatte.
Verlier nicht den Verstand!, ermahnte die junge Frau sich selbst, Er fühlt nicht wie du!
Aufgewühlt setzte sie sich auf ihr Bett.
Komm zur Vernunft!
Elsa beschloss, um sich von ihren wirren Gedanken abzulenken, schlafen zu gegen, doch bevor sie dies konnte, musste sie sich erst noch waschen und ihr Nachtkleid anziehen.
Als die Königin damit fertig war, schlüpfte sie unter die weiche Bettdecke, zog sie bis zum Hals hoch und schloss ihre Augen. Nach einer kleinen Weile, in der sie noch der Stille lauschte, war Elsa schließlich eingeschlafen.Elsa! Elsa!!!, hauchte eine Stimme in ihrem Kopf, Hast du mich vergessen?
Träumend bemerkte die Königin, dass sie diese Stimme nur allzu gut kannte.
Ich bin enttäuscht von dir, Elsa! Ich dachte, ich bedeute dir etwas. Stattdessen wirfst du dich diesem kleinen Hüter an den Hals!, brauste der rauchige Klang.
Unwohl wälzte sie sich hin und her. Sie wollte ihm antworten, sagen, dass ihr niemand mehr bedeutete als er, doch sie bekam keinen Laut über ihre Lippen.
Seine goldenen, wütend verzerrten Augen flogen auf die Eiskönigin zu.
Enttäuscht von dir, Elsa! Enttäuscht!, hallte seine Stimme wider.
Schneller und schneller drehte sich Elsa hin und her, während die Geräusche immer lauter und aufdringlicher wurden, bis sie schließlich ruckartig aus ihrem Bett hochschnellte.
Kerzengerade saß sie da. Ihr Herz raste vor Angst und ihr Atem ging schnell und rasselnd.
Ein Alptraum. Es war nur ein Alptraum..., versuchte sie sich zu beruhigen, Nichts ist passiert, es war nur ein Traum!
Elsas Atem beruhigte sich allmählich, sodass sie aufstehen konnte, sich eines ihrer Kleider anzog und ihre Haare hochsteckte.
Ich will zu Jack!, bestimmte ihr Unterbewusstsein.
Noch bevor sie sich stoppen konnte, fand sich die junge Hüterin bereits vor seiner Tür wieder, die rechte Hand zum Klopfen erhoben. Als stände sie neben sich, sah sie mit an, wie ihre Hand mehrfach an das weiße Holz schlug.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Türklinke runterdrückte und beiseite schwang.
Dahinter stand ein verschlafener Jack Frost, der sich müde die Augen rieb. Er schien noch nicht bemerkt zu haben, wer vor ihm stand.
Erstarrt blickte die Königin den jungen Hüter an. Ihr eröffnete sich ein ungewohnter Anblick. Sie wollte sich, schon aus Höflichkeit, umdrehen, doch sie konnte sich keinen Millimeter bewegen.
Als Jack damit fertig war, die Müdigkeit aus Armen und Beinen zu vertreiben, bemerkte schließlich auch er, dass er nur in Unterhose in seiner offenen Tür stand, auf deren anderen Seite sich Elsa befand und ihn entgeistert anblickte.
Augenblicklich stieg ihm die Röte ins Gesicht und er versuchte, sich irgendwie aus dieser Situation rauszureden: "Gu-Guten Morgen, Elsa." Jack wollte so normal wie möglich klingen, doch es wollte ihm nicht gelingen.
Noch immer stand die junge Hüterin wie versteinert vor ihm und brachte kein einziges Wort heraus.
"Also... Ähm...", kratze er sich verlegen am Hinterkopf, "Ich... Äh... Ich zieh mich mal schnell an."
Schon war er wieder in seinem Raum verschwunden und Elsa stand erneut vor seiner verschlossenen Tür. Glücklicherweise löste sich ihr Körper langsam aus der peinlichen Bewegungslosigkeit.
Kaum hatte sich die junge Frau wieder komplett gefangen, öffnete sich wieder die Tür und der Weißhaarige trat heraus.
Jack tat so, als wäre nichts passiert und erklärte ihr, was die Hüter heute mit ihr vorhatten: "Da bin ich. Schön, dass du schon wach bist. Da können wir schon eher mit dem Training beginnen."
"Training?"
"Ja. North meinte, ich soll dir verschiedene Kampftechniken beibringen, mit denen du dich gegen die bevorstehende Bedrohung zur Wehr setzen kannst. Der Mann im Mond meint, es wird bald soweit sein. Dann musst du vorbereitet sein."
Stimmt., kam es Elsa wieder in den Sinn, während sie durch die Flure der Weihnachtsmannwerkstatt wandelten. Dies war der wahre Grund dafür gewesen, warum sie hier war.
Nach einer Weile des Schweigens fragte sie schließlich: "Und wo werden wir trainieren?"
"Draußen im Wald. Dort gibt es viele freie Flächen, aber auch uneinsichtige Plätze."
Elsa nickte stumm und folgte ihm den restlichen Weg.
"Wir sind da.", eröffnete Jack ihr, nachdem er neben einem kleinen See angehalten hatte.
Neugierig schaute Elsa sich um. Tatsächlich sah es so aus, als hätte hier ein kleiner Eissturm gewütet. Die Bäume waren starr und vollkommen gefroren, der Boden eisglatt und nur an einigen Stellen mit feinem Neuschnee bedeckt.
Der Wintergeist schien wohl ihre Blicke bemerkt zu haben, denn wie aus dem Nichts erzählte er: "Ich übe hier auch oft, probiere neue Taktiken aus... Aber nun wollen wir beginnen."
Die Eiskönigin schaute ihn neugierig an.
"Um dein Eis zu lenken, musst du zuerst wissen, woher es kommt, was er antreibt. Du musst seine Herkunft ergründen, Elsa. Und genau das ist es, womit wir heute anfangen wollen.", erklärte der Hüter des Lachens, "Die Herkunft deiner Kräfte sagt dir, wie du mit ihnen umgehen kannst. Versuche es, hör in dich hinein! Suche nach dem Ursprung!"
Elsa fing sofort an, in ihrem Inneren danach zu forschen.
Nach einiger Zeit dachte sie, das, wonach sie suchen sollte, gefunden zu haben und offenbarte es ihrem Lehrer: "Ich bin mit meinen Kräften geboren worden, doch der Ursprung meiner Magie reicht weit über meine Geburt hinaus. Meine Seele trägt sie und diese ist viel älter als ich, viel älter als alle Hüter. Es ist, wie ihr mir erzählt habt, die Seele der Urhüterin Elaine. Zu ihrer Zeit waren es noch Natur- und Wasserkräfte, doch durch ihren Tod und die Wiedergeburt dieser Seele, wurde aus Wassermagie Eismagie. Das Wichtigste jedoch habe ich erst zu meiner Krönung gelernt: Der Schlüssel zu ihnen ist meine Liebe zu Anna."
Bedächtig hörte Jack zu.
Als sie ihre Erzählung geschlossen hatte, erwiderte er: "Sehr gut. Nun weißt du, woher deine Kräfte stammen. Aber damit wir perfekt zusammenarbeiten können, sollst du auch die Herkunft meiner Magie erfahren..."
So begann Jack Frost zu erzählen. Davon, wie er vor 328 Jahren hieß, von seiner kleinen Schwester, dem See, dem einen, alles verändernden Ausflug, dem Mann im Mond und von den darauf folgenden 300 Jahren, in denen er beinahe ziellos auf der Erde umherirrte.
Die ganze Zeit über hörte ihm die junge Frau aufmerksam zu, zeigte aufrichtiges Interesse und hatte am Ende das Gefühl, den Jack, den sie dachte zu kennen, doch nicht gekannt zu haben. Sie hatte nichts von ihm gewusst, rein garnichts. Hatte angenommen, er wäre als Hüter geboren worden, wie sie, doch nun erkannte die Eiskönigin, dass dem nicht so war.
"Du... Du hast dein altes Leben verloren, um Hüter zu werden?", konnte Elsa gerade noch fragen.
"Ja. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Der Mond gab mir etwas Besseres, etwas Größeres dafür. Jedem von uns hat er das gegeben. Jeder einzelne von uns wurde nur zum Hüter erwählt, weil er sich für einen anderen Menschen aufgeopfert hatte. North, Tooth, Sandy und auch Hase waren zuvor Menschen. Jeder hatte auf seine Weise dabei geholfen, ein Menschenleben zu retten."
Die Königin war beeindruckt. Sie alle waren einmal sterblich gewesen?
"Und... Ich bin anders, nicht wahr?", bekam sie zögerlich über ihre Lippen.
Elsa war sich nicht ganz sicher, ob sie die Antwort darauf wirklich hören wollte, doch nun hatte sie die Frage bereits gestellt.
"Ja. Deine Vorgängerin, Elaine, die Hüterin der Quellen, wurde bereits als Unsterbliche geboren. Das macht sie so besonders und ihre Kräfte so mächtig. Sie starb auch für einen geliebten Menschen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre magischen Kräfte schon. Sie starb, doch erhielt dafür kein ewiges Leben, denn das besaß sie zuvor. Du bist diejenige, die auserwählt wurde, um ihre magische Seele zu tragen. Du, Elsa, bist diejenige, die nicht denselben Fehler begehen darf, wie sie. Du musst stark sein, stärker als deine Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. Du brauchst Kraft für die Kinder.", antwortete Jack. Dabei schaute er sie so intensiv an, dass er Elsa beinahe unheimlich erschien.
"Ich werde all meine Kraft für sie geben.", versprach sie mit gesenktem Kopf und leiser Stimme.
"Das ist auch sehr wichtig. Die Kinder sind das Morgen, die Zukunft. Sie sind das, was von uns allen zurückbleibt. Sie sind das Lachen der Erde, ihre Erinnerungen, Träume und Hoffnungen. Kinder sind Wunder, Kinder sind Liebe."
Elsa nickte stumm. Sie hatte verstanden, was Jack ihr sagen wollte. Sie musste ihre Aufgabe als Hüterin um jeden Preis erfüllen. Selbst, wenn sie dafür sterben müsste, die Königin würde die Kinder vor allem Unheil beschützen, sie bis zu ihrem Tod verteidigen... Jetzt, in diesem Moment begriff sie ihre Berufung, den wahren Grund, den wahren Sinn ihres Lebens.
Dankbar dafür, dass ihr Jack Frost zu dieser Erkenntnis verholfen hatte, lächelte sie ihn an.
"Es ist Zeit.", flüsterte er, "Der Tag ist um."
Schnellen Schrittes, ohne ihr auch nur ein kleines Lächeln zu schenken, machte er sich auf den Rückweg.
Was ist mit ihm los? Habe ich etwas falsch gemacht? Er ist, seit wir hier sind, so ernst..., dachte Elsa bekümmert, während sie dem jungen Hüter folgte.
Vielleicht hat er nur einen schlechten Tag..., versuchte sie sich zu beruhigen, Morgen ist es bestimmt wieder besser.
Kaum hatte sie den Satz in Gedanken beendet, stand die junge Frau auch schon vor ihrer Tür. Bevor sie jedoch in ihr Zimmer ging, wollte Elsa ihm noch eine gute Nacht wünschen.
"Schlaf schön.", hauchte sie ihm, über ein Lächeln hin, zu, doch Jack antwortete nicht.
Schweigend und mit einem leeren Blick verschwand er hinter dem weißen Holz seiner Tür.
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Die verlorene Hüterin
FanfictionDieses Buch ist eine Fanfiction zu "Die Hüter des Lichts" von den Dreamworks Animation Studios und zu "Frozen"/"Die Eiskönigin" von Disney. Noch bevor Jack Hüter wurde, sogar noch vor der Zeit des Hasen, Norths, Sandys und Tooths, gab es eine Hüteri...