Da saß sie nun, das raue schwarze Buch mit dem goldenen Schriftzug darauf in ihrer Hand. Noch einmal fuhr sie über den ledernen Einband. Elsa spürte die unersättliche Neugier in sich, die sie schon seit dem Abendessen quälte. Endlich war sie vollkommen allein und es war auch nicht abzusehen, dass noch jemand an der Zimmertür der Eiskönigin klopfen würde. Nun hatte Elsa Zeit, sich vollkommen dem Buch in ihren Händen zu widmen. Noch immer bedauerte die Königin, nicht die Legende um ihre Seele gefunden zu haben, aber dieses Schriftstück würde ihr sicherlich auch einige Antworten liefern können.
Die junge Frau atmete noch einmal tief durch und schlug das Buch schließlich auf.
Ein modriger Geruch kroch in ihre Nase. Auf der ersten Seite war erneut der Titel der Legende zu lesen.
Die Wesen der Finsternis.
Elsa blätterte um.
Das Papier war vergilbt und so rau wie der Einband. Schwere, dunkle Buchstaben füllten die Seiten, gaben preis, was der Leser erfahren sollte.
Die Hüterin begann zu lesen: Zu Beginn gab es nur die Nacht. Sie war dunkel, kalt und sie brachte die Angst zu den Menschen. Zu ihr gesellte sich schon bald die Gefahr, die die Furcht der Menschen schürte und so die Macht dieser beiden Kreaturen stärkte. Sie waren Wesen der Nacht, Kinder der Finsternis. Sie schwächten alle Lebewesen, die nicht zum Kreise der Finsternis gehörten. Doch Angst und Gefahr blieben nicht allein. Verzweiflung, Hass, Neid, Eifersucht, Gewalt und Leid wurden zu ihren stetigen Begleitern.
Elsa hörte auf zu lesen. Sie hatte nicht gewusst, dass es so viele weitere dunkle Wesen gegeben hatte. Mit der Angst war sicher Pitch gemeint...
Bedächtig las sie weiter: Gemeinsam quälten sie alles Leben der Erde, raubten Hoffnung, Mut und Freude und herrschten so eine lange Zeit. Nichts konnte sie stoppen, nichts zerstören. Grausam wüteten die Kreaturen der Nacht über das Land und nannten die Seelen der Menschen ihr Eigentum.
Die Sterne sahen die Ungerechtigkeit und schickten ihren Bruder den Mond, damit er mit seinem silbernen Schein die ewige Finsternis durchbrach. Auch er erschuf ein Wesen. Es sollte Hoffnung, Glück und Zuversicht zu den Menschen bringen. Doch diesen fiel es schwer, das Kind des Lichts inmitten der dunklen Kreaturen zu erkennen. Also holte der Mond seine Schwester die Sonne zu sich und zusammen brachten sie den Tag hervor. Es sollte die Zeit der guten Wesen sein. Die Sonne behütete ihn und erhellte den Tag mit ihrem Licht. Der Mond jedoch musste ein Auge auf die Nacht werfen und ruhte am Tag.
Nun da das Licht das gute Wesen unter all den dunklen Gestalten zum Vorschein brachte und die Sonne ihm ihren Glanz geschenkt hatte, begannen alle Lebewesen in neu aufkeimender Hoffnung zu leben.
Endlich hatte die Eiskönigin einen Hinweis auf ihre vorherige Existenz gefunden. Mit Sicherheit war das Lichtwesen ihre Vorgängerin gewesen. Wenn sie den Text weiterverfolgte, würde Elsa sicherlich noch mehr über die Urhüterin erfahren...
Damit die Menschen dem Guten einen Namen geben konnten, gaben Mond und Sonne der Lichtkreatur die Macht über Natur und Wasser, tauften sie Elaine und ernannten diese zur alleinigen Hüterin über alles Positive in den Menschen, besonders den Kindern. Ihre Aufgabe war es ab diesem Tage, die Dunkelheit aus allen Herzen zu vertreiben und Zuversicht an ihrer Stelle zu pflanzen.
Elsa gönnte sich eine Lesepause. Ihre Vermutung, dass in diesem Text die Urhüterin Elaine erwähnt wurde, hatte sich bestätigt. Dieses Buch schien noch viel bedeutsamer für sie zu sein, als zu Beginn angenommen.
Kurz schweiften ihre Gedanken zu dem Wintergeist ab, doch Elsa gebot ihnen sofort Einhalt.
Die junge Königin wandte sich wieder dem schwarzen Buch zu: Im Laufe der vielen Jahrhunderte schaffte es das Kind des Lichts, beinahe alle Schattenkreaturen zu vernichten. Nur eine blieb: die Angst, das stärkste und gefährlichste Finsterniswesen.
Von nun an sollte es auf bitterste Rache sühnen. Der Tod seiner Geschwister war in den Augen der Kreatur ausschließlich mit der Vernichtung der Hüterin zu vergelten. So ersann die Angst einen Plan. Jahrzehnte suchte das Wesen, welches unter den Menschen als Schwarzer Mann bekannt war, nach einer Schwachstelle, einem wunden Punkt der Hüterin des Lichts und diesen sollte es auch finden.
Der Schwarze Mann erfuhr davon, dass Elaine niemals wird lieben dürfen, doch genau das war es, was er sich zunutze machen wollte. Die Herrin der Quellen sollte sich verlieben, aber zuvor müsste sie erfahren, was Einsamkeit ist.
Mit dunkler Macht vertrieb er jedes Lebewesen aus dem Umfeld der Hüterin, sodass diese sich schon bald verlassen und unverstanden fühlte. Danach sandte er händereibend einen Menschen zu ihr, der Elaine dazu bringen sollte, ihn zu lieben. Es dauerte nicht lang und das Herz der Hüterin war gefangen. Nun, so beschloss der Schwarze Mann, war es Zeit, ihr ein Ultimatum zu stellen, das ihm endlich seine Vergeltung bringen sollte.
Wieder hörte die Eiskönigin auf zu lesen. Diese Legende nahm sie doch mehr mit, als sie für möglich gehalten hätte. Bei jedem Wort, jeder Zeile, die von ihrer Vorgängerin berichtete, schmerzte etwas tief in ihr. Die junge Frau konnte sich nicht erklären was es war, doch dieser Schmerz zwang sie dazu, eine Pause einzulegen.
Elsa legte das Buch aufgeschlagen beiseite und stand auf, um sich kurz die Beine zu vertreten. Sie trat an ihr Fenster heran, öffnete es und ließ den kalten Nordwind über ihr Gesicht und durch ihre Haare fahren.
Genüsslich atmete die schöne Hüterin die Nachtluft ein. Der frische Sauerstoff strömte durch ihre Lunge, erfüllte sie mit neuer Energie und ließ den inneren Schmerz verfliegen. Nun war Elsa bereit, weiterzulesen.
Ohne das Fenster zu schließen, schritt sie wieder auf ihr Bett zu, nahm das Schriftstück erneut und setzte sich.
Die Eiskönigin begann zu lesen: Der, der sich selbst Pitch Black nannte, entführte den Geliebten der Hüterin. Sie sollte für ihn sterben oder er würde diesem Menschen das Leben nehmen. Das Kind des Lichts opferte sich, um ihn zu retten, und die Finsternis triumphierte. Doch auch die Angst sollte bald ein Ende finden.
Jahrhunderte nachdem der silberne Schein vier neue Hüter erwählte, forderte das Böse mit all seiner verbliebenen Macht erneut die Beschützer der Menschen heraus. Jedoch hatte es nicht damit gerechnet, dass es die Kälte war, die sich gegen die Dunkelheit stellte. In einem erbitterten Kampf um den Glauben der Kinder verloren die Hüter beinahe all ihre Kraft, doch das Eis gebot der Finsternis Einhalt. Getrieben von der eigenen Angst verschwand das letzte Kind der Dunkelheit für immer aus den Herzen der Menschen.
Elsa erinnerte sich daran, wie North ihr von einer Schlacht erzählt hatte, die vor mehreren Jahren stattgefunden hatte. In dieser wurde Pitch besiegt, so hatte er ihr berichtet. Genau das bestätigte auch der Text in ihren Händen, jedoch war dieser noch nicht gänzlich beendet. Ein paar Zeilen, die es zu lesen galt, lagen noch vor Elsa.
Aufmerksam widmete sie sich wieder der schweren Schrift: Jedoch ist die dunkle Kreatur nicht vernichtet. Geschwächt harrt das Wesen in den Tiefen der Welt aus, sammelt erneut seine Kraft und mehrt sie. Es wird eine Zeit kommen, in der das finstere Wesen erneut hervorbrechen wird. Größer, stärker, grausamer und unerbittlicher. Und dann kann ihm nur die Macht des Kindes von Mond und Sonne Einhalt gebieten...
Der Text hatte sein Ende gefunden. Die letzten Worte hallten im Kopf der jungen Königin wider. Das Kind von Mond und Sonne... Damit musste wohl sie selbst gemeint sein. Wenn sie das richtig verstanden hatte, waren alle anderen Hüter nur Kinder des Mondes, was auch erklären würde, warum er mit ihnen spricht. Das war es wahrscheinlich auch, was sie so besonders machte. Elsa hatte nie so recht verstanden warum sie es war, deren Kräfte die intensivsten waren, doch nun wusste sie, dass die Macht der Sonne und des Mondes in ihren Adern floss.
Sie hatte endlich mehr über sich erfahren, aber auch über das Finsterniswesen, wovon die Hüter sprachen und es ihr als Grund für ihre Anwesenheit hier am Nordpol nannten. Zwar kannte sie die eigentliche Legende um sich selbst nicht, aber die neu erfassten Informationen reichten der Eiskönigin fürs Erste aus.Seine Finger strichen über den kühlen, glatten Einband. Es wunderte ihn jedesmal aufs neue, dass sich die Farbe desselbigen immer dann änderte, wenn er es berührte. Jack hatte bemerkt, dass dieses Phänomen nicht aufgetreten war, als der Weihnachtsmann es in seinen Händen liegen hatte. Auch bei Sandy, Toothiana oder dem Osterkänguru war nichts geschehen. Hatte das irgendeine besondere Bedeutung? Warum gerade er?
Jack Frost konnte sich nicht erklären, wie es dazu kam. Noch ergab die Reaktion des Buches keinen Sinn für Jack, doch vielleicht würde er es bald verstehen.
Da musste er wieder an Elsa denken. Dieses Schriftstück war das Einzige, was ihm noch von der wunderschönen Hüterin geblieben war. Ihre Nähe fehlte ihm, doch der Wintergeist konnte nichts dagegen tun. Er musste ihr fern bleiben, so sehr ihn das auch quälte. Oder sollte der junge Hüter den Flur entlang gehen und an ihre Tür klopfen?
Nein, stop! Das wirst du ganz sicher nicht tun! Bleib hier, lauf ihr nicht über den Weg!, ermahnte er sich selbst.
Elsa nun zu sehen würde nicht nur ihm weh tun, sondern sicherlich auch ihr Schmerzen bereiten und das war es, was Jack vermeiden wollte. Er konnte es nicht ertragen, der Königin ein Leid zuzufügen. Das, was er heute Morgen getan hatte, zuckte ihm immer wieder durch den Kopf. Sie konnte doch garnicht verstehen, welchen Grund er für sein Handeln hatte. Was dachte die Eiskönigin nun von ihm?
Jack ahnte, dass sie enttäuscht sein könnte, hatte sie seine Nähe vor zwei Tagen doch sichtlich genossen.
Vielleicht stellt sie sich sogar vor, ich habe sie nur ausgenutzt...
Die Melancholie und Verzweiflung, die der Wintergeist seit gestern verspürte, füllten seinen ganzen Körper aus. Machten ihn schwach, raubten all seinen Frohsinn. Es war nichts mehr von dem ursprünglichen Jack Frost übrig, sein Innerstes war klein und kränklich geworden. Ja, er hatte die Pflicht, den Winter über das Land und den Kindern das Lachen zu bringen, doch er konnte nicht. Das Überfrieren der Erde war etwas, das der junge Hüter auch von seinem Zimmer aus erledigen konnte, doch die Freude, die er für gewöhnlich verbreitete, blieb dieses Jahr aus.
Schwer atmete Jack ein. Zerstört. Das war das richtige Wort für ihn, zerstört. Nichts ergab mehr einen Sinn. Er blickte auf die letzten 326 Jahre zurück. Sein gesamtes unsterbliches Leben lief an dem inneren Auge des Wintergeists vorbei. Nie hatte er sich einsamer, nie verlassener gefühlt.
Nur einmal in dieser langen Zeit hatte es ein ähnliches Gefühl gegeben. Es war der erste Tag in seinem neuen Leben gewesen. Der Tag, an dem der erste Mensch durch ihn hindurchlief, diese eine Nacht, in der realisieren musste, dass ihn niemand sehen konnte, dass er allein war. Und genauso fühlte er sich jetzt. Allein und unsichtbar für die Person, die Jack unendlich viel bedeutete.
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Die verlorene Hüterin
Hayran KurguDieses Buch ist eine Fanfiction zu "Die Hüter des Lichts" von den Dreamworks Animation Studios und zu "Frozen"/"Die Eiskönigin" von Disney. Noch bevor Jack Hüter wurde, sogar noch vor der Zeit des Hasen, Norths, Sandys und Tooths, gab es eine Hüteri...