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ZWEI WOCHEN SPÄTER

Lars war aufgeregt und freute sich. Jeden Moment würden ihn seine Geschwister besuchen kommen. Heute war Neles Geburtstag und die Ärzte waren einverstanden, dass Lars Besuch bekommen durfte, allerdings durften Nele und Emilia nicht in sein Zimmer aus Glas kommen, sondern konnten nur durch das Glas hindurch mit ihm sprechen. Doch alleine das brachte Lars in Euphorie. In seinem ganzem Leben hatte er sich wohl noch nie so sehr auf seine beiden Schwestern gefreut. Unruhig hüpfte er im Bett hin und her. "Pass auf Lars, nicht, dass du noch aus dem Bett fliegst.", mahnte ihn sein Vater an und lächelte. Er freute sich wohl jedoch genauso sehr wie sein Sohn, dass seine Familie endlich mal wieder zusammen kommen würde und wenn auch nur für eine knappe halbe Stunde. "Wo bleiben die denn?", fragte Lars stöhnend und verzog das Gesicht. "Sie müssten jeden Moment da sein, vielleicht sind sie im Stau gestanden oder so.", stellte der Vater die Vermutung auf und blätterte unkonzentriert in seiner Zeitschrift. Dann endlich konnte Lars und sein Papa die Drei um die Ecke biegen sehen. Emilia schaute schüchtern umher und auch für Nele schien das alles hier fremd und seltam zu sein. Lars' Mutter kramte gerade noch in ihrer Tasche umher und richtete dann ihren Blick geradeaus auf ihren Sohn. Stumm lächelten sie sich zu und wenig später entdeckten auch Nele und Emilia ihn in seinem transparenten Glaskasten.

Obwohl seine Geschwister ihn mittlerweile mit seinem kahlen Kopf gesehen hatten, machten sie nun doch einen etwas mitleidigen und leicht erschrockenen Eindruck. "Hallo Lars.", tönten ihre Stimmen und Lars musste grinsen, weil selbst Nele plötzlich wie ein kleines Mädchen klang. "Hallo!", rief er freudig aus. Lars' Vater stand ebenfalls auf und sagte, er würde kurz nach draußen gehen, um Nele zu gratulieren. Achja, beinahe hätte Lars es vergessen. "Alles Gute zum Geburtstag Nele!", beglückwünschte er sie schnell im Anschluss und holte sein Geschenk hervor, das er vor Kurzem zusammen mit Kathi gemacht hatte. Jedoch war es diesmal kein gemaltes Bild, sondern ein verziertes Rohr mit Reiskörner darin, das wunderbar entspannende Geräusche machte, wenn man es von einer Seite auf die andere drehte. Schnell gab er es seinem Vater, damit er es seiner Tochter geben konnte. 
"Das ist ja cool, hast du das selber gemacht?", fragte sie neugierig und erstaunt, als sie es in der Hand hielt und ausprobierte. "Ja, ich bastel und male gerade ziemlich viel. Langsam hängt es mir wirklich ein bisschen zum Hals raus. Meine ganzen Wände sind schon voll mit Bildern.", seufzte Lars grinsend. "Tut dir vielleicht mal ganz gut nicht nur wie ein Irrer durch die Gegend zu springen und zu kicken.", neckte sie ihn und lachte. Nach einem gekünstelt bösem Blick, den er seiner älteren Schwester schenkte, fiel auch er in ihr Lachen mitein. Lars' Mutter unterhielt sich währenddessen mit ihrem Mann und Emilia stand etwas unbeholfen daneben. "Komm mal her Emilia.", winkte er nun auch seine kleine Schwester zu sich und hätte sie am liebsten ganz fest an sich gedrückt und abgeknutscht. Mit ihren großen blauen Augen und dem schüchternen Blick war sie einfach zum Dahinschmelzen. Dazu kam die Tatsache, dass er sie nun mehr als vier Wochen nicht gesehen hatte. Fast bildete sich Lars ein, sie hätte sich verändert und wäre gewachsen, was natürlich nicht sein konnte. Vorsichtig trat sie näher zu Nele an die Glasscheibe heran, hinter der Lars auf seinem Bett kniete und nach draußen kuckte. Sie trug ein blaues Jeanskleid und weiße Strumpfhosen darunter. Ihr selbstgemachtes Armband, das sie schon vor Wochen im Kindergarten gestaltet hatte, hing immer noch an ihrem kindlichen Handgelenk. Lars lächelte sie aufmunternd an, da er wusste, dass seine Schwester nach langer Zeit der Trennung immer etwas zurückhaltend war. "Was machst du da drinnen?", fragte sie völlig neutral und Lars musste beinahe lachen. Zusammen mit Nele erklärte er Emilia in vereinfachter Version die Umstände, obwohl sie ja mittlerweile mitbekommen hatte, was Lars fehlte. Natürlich erschien ihr der Glaskasten und die dünnen Schläuche, die durch eine Luke zu ihm führten mehr als merkwürdig und so fragte sie eben sicherheitshalber nochmal nach. "Feierst du deinen Geburtstag dann auch mit deinen Freundinnen?", wollte Lars an Nele gewandt wissen. "Ja, heute Abend kommen noch Linda und ein paar andere Mädels zum Abendessen und Film schauen.", rückte seine Schwester mit einem Lächeln auf dem Gesicht heraus, doch schnell verfinsterte sich ihr Ausdruck wieder und Lars konnte ihr Ansehen, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen hatte. Sie dachte wohl, es wäre gegenüber ihm nicht richtig von Freunden und Spaß zu erzählen, während er hier abgeschottet vom Rest der Welt lag und nichts richtiges tun konnte. Lars wollte Nele schnell wieder das Gefühl geben, dass alles in Ordnung war und sie sich nicht mit irgendetwas zurüchhalten musste  - im Gegenteil, Lars wollte hören, was alle anderen so taten und was sie vorhatten. Wie sonst sollte er sonst noch irgendetwas mitbekommen? "Hört sich echt gut an.", erwiderte Lars in aufrichtigem und freundlichem Ton und gab Nele damit seine Absichten zu verstehen. Ihre Mundwinkel gingen wieder nach oben und so erzählte sie noch ein paar Vorkommnisse der letzten Zeit und fragte auch Lars über seinen Tagesablauf aus. Lars war bereitwillig zu erklären, wollte aber viel lieber hören, was seine Schwester zu erzählen hatte. Mehrere Augenblicke später traten dann auch noch die Eltern der Kinder hinzu und gliederten sich in das Gespräch ein. Sogar Emilia taute langsam wieder auf und zeigte wieder ihr sonst so frohes und aufgewecktes Gemüt. Je länger sie redeten, desto schneller ging es auf das Ende zu. Die maximale Zeit von zwanzig Minuten würde jeden Moment überschritten sein. Lars genoss jeden Augenblick in der Gemeinschaft. Wer wusste, wie lange er noch hier sein würde und nur ein Elternteil um sich hätte? Als seine Mutter eines Tages erzählt hatte, dass das kleine Mädchen namens Evey schräg gegenüber von ihm nun mittlerweile mehr als vier Monate hier ihre Zeit zubrachte und nicht gesund zu werden schien, hatte er schlucken müssen. Vier Monate? In seinem Fall würde das heißen, dass er erst ein Viertel seiner Zeit hinter sich gebracht hätte. Schnell verdrängte Lars den Gedanken, dass es nicht ganz unwahrscheinlich war, auch wenn es ihm im Moment den Umständen entsprechend gut ging und er die Chemo äußerst gut vertragen hatte, doch wer wusste schon, was noch kommen wird...

Wie erwartet bat nur kurze Zeit später eine Krankenschwester, deren Name Lars sich nicht merken konnte, die Familie, Lars zu verlassen. "Bis dann Lars. Du kommst sicher bald wieder nach Hause.", verabschiedete sich Nele und Emilia winkte ihm lächelnd. "Wir sehen uns in einer Woche Schatz.", munterte seine Mutter ihn auf und warf ihm einen Luftkuss zu, anschließend nahm sie Emilia an die Hand und verschwand mit ihren Töchtern genauso schnell wie sie gekommen war. Da saß er nun wieder, alleine mit seinem Vater und versuchte die bevorstehende Zeit hinter sich zu bringen. Sein Vater lächelte ihm zu und er lächelte zurück - beide in ihren eigenen Gedanken versunken.




The kids at station 7Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt