Tag 1
Lars wusste, dass er mindestens noch weitere sieben Tage in seiner gefühlten Gefängniszelle verbringen musste, doch seltsamerweise verspürte er im Moment nur eine gewisse Gleichgültigkeit. So viele Wochen war er jetzt schon hier, was machte da schon eine mehr oder weniger aus? Außerdem sah er ein, dass das er mit einer Darmentzündung nicht einfach nach Hause gehen konnte. Wenn er sich dort einen Infekt holen würde, wäre es bestimmt schnell für ihn das Ende. Lars blickte in seinem Zimmer umher. Den Nintendo hatte er schon seit Langem nicht mehr angetastet. Die anfängliche Euphorie, damit zu spielen, war längst verschwunden. Auch der Fernseher, der ihm jederzeit zur Verfügung stand, bot keinen Reiz mehr. Wie oft hatte er sich zuhause gewünscht, er dürfte länger schauen. Damals war es das Größte für ihn gewesen, wenn er abends das Gerät einschalten durfte. Und nun? Eigentlich benutzte er die seichte Unterhaltung nur, um seinen Kopf mit irgendetwas zu füllen und sich die Zeit zu vertreiben. Denn mehr als das, konnte er hier nicht tun. Er wurde nicht gebraucht. Er war nur da, um endlich gesund zu werden und genau das lastete so schwer auf ihm. Er konnte nicht aus eigener Kraft seine Genesung beschleunigen. Überhaupt konnte er nichts dazutun, sein Körper musste das selber in den Griff bekommen. Lars wünschte sich jedoch, er würde sich dabei etwas beeilen.
Es war Vormittag und gleich würde Frau Zech, seine Lehrerin kommen. Auch sie hatte schon unter seinen Stimmungsschwankungen leiden müssen, doch er schätzte, sie war das gewohnt und konnte die Kinder durchaus verstehen. Sie zeigte große Geduld und Verständnis und brach auch teilweise den Unterricht ab, wenn sie merkte, dass es heute keinen Sinn hatte, etwas zu lernen. Und obwohl es Lars heute immer noch nicht einwandfrei ging, nahm er sich vor, sich anzustrengen. Schließlich wollte er nicht, dass er zurückblieb und nicht in die nächste Klassenstufe vorrücken konnte. Nächstes Jahr würde er in die fünfte Klasse kommen, was bedeutete, dass er auf die große Schule kam. Noch war jedoch nicht sicher, ob Mittel-, Realschule oder Gymnasium.
Tag 2
Lars wachte bereits um sechs Uhr am Morgen auf und konnte nicht mehr schlafen. Na toll. Jetzt war der Tag noch länger, als er sowieso schon war. Mittlerweile wusste Lars einfach nicht mehr wirklich, wie er sich beschäftigen konnte. Ja, er hatte sogar schon ein Buch gelesen! Kein dickes, aber für ihn doch eine große Leistung. Nie wäre er jemals auf die Idee gekommen, außerhalb der Schule etwas zu lesen. Allerdings musste er zugeben, dass es eigentlich gar nicht so schlecht gewesen war, wie befürchtet. Tatsächlich hatte er sogar manche Seiten geradezu verschlungen und teilweise vor Spannug inne gehalten. Vielleicht sollte er sich nocheinmal Eines zur Hand nehmen. Immer wieder hatte er kleine Päckchen bekommen, indem sich von Freunden, Verwandten oder Bekannten, Bücher befanden, damit er sich beschäftigen konnte. Die meisten davon wussten anscheinend nicht, dass er eigentlich keine Bücher mochte. Allerdings war er im Augenblick dankbar über die Unwissenheit, denn auf Fernsehen hatte er so früh am Morgen schon mal gar keine Lust und überhaupt, zu dieser Zeit kam sowieso nur Schrott. Lars streckte sich und nahm von seinem Regal in der Wand ein beliebiges Buch zur Hand. Es war etwas dicker als das Vorherige und hatte einen festeren Einband. "Das Geheimnis von Schloss Morillion", murmelte Lars. Auf dem Cover waren drei Kinder abgebildet, die über einen Tisch gebeugt ein Buch ansahen. Einer davon hielt eine Taschenlampe darüber und im Hintergrund sah es eher finster aus. Lars fand, dass das Buch einen interessanten Eindruck machte und blätterte auf die erste Seite.
Lars bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Als er auf Seite 67 angekommen war, sah er zum ersten Mal auf seine Weckeruhr auf dem Tisch um musste feststellen, dass er schon über eine Stunde gelesen hatte. Trotzdem blieb immer noch genügend Zeit, bis die Krankenschwestern kamen, um mit ihm sein morgendliches Programm durchzuführen. Er las weiter und merkte, dass es ich in dem Buch nicht nur um ein spannendes Krimi handelte, sondern ebenso etwas über Martin Luther darin vorkam. Lars hatte des öfteren schon von diesem Mann gehört. Er wusste, dass er etwas mit dem evangelischen Glauben zu tun hatte und dass es diesen ohne ihn nicht gäbe. Viel mehr fiel ihm dann jedoch nicht mehr ein. Beinahe schämte sich Lars, da er doch eigentlich selbst evangelisch war. Doch was war denn groß der Unterschied zwischen katholisch und evangelisch. Soweit Lars wusste, glaubten beide Gruppen an einen Gott. Oder nicht? Naja, vielleicht würde er ja in diesem Buch mehr darüber erfahren und wenn nicht, gab es ja immer noch seinen Vater, bei dem er nachfragen konnte.
Bis halb neun hatte er das Buch doch tatsächlich gelesen und staunte über sich selbst. Ein ganzes Buch an nur einem Morgen! Lars fragte sich, was seine Kumpels über ihn denken würden, wenn sie davon wussten. Würden sie ihn auslachen und sagen, dass lesen nur für Mädchen sei? Und wenn schon, sie wussten eben nicht, wie spannend so ein Buch sein konnte. Jetzt, da er fertig war, wusste er sehr viel mehr über diesen Mann names Martin, der den Menschen das pure Evangelium aufgezeigt hatte. Anscheinend hatten die Menschen früher sogenannte Ablassbriefe von der Kirche kaufen können, durch die sie Sündenvergebenung erlangen konnten. Lars schüttelte entrüstet den Kopf. Welcher komische Typ hatte sich diesen Blödsinn denn bitte einfallen lassen? Bestimmt jemand, der zu faul war, arbeiten zu gehen und sich leicht Geld verdienen wollte. Wie auch immer, Martin Luther hatte die Bibel in das Deutsche übersetzt, was bestimmt ganz schön viel Arbeit gewesen sein musste, wenn man sich überlegte wie dick dieses Buch war und wie miniklein die Schrift. Überhaupt, bei diesen hauchdünnen Seiten musste man ja aufpassen, dass man sie nicht zerriss! Jedenfalls wusste Lars nun, dass es die Bibel damals nur im Lateinischen gab, was ein Problem für die damaligen Menschen gewesen war, da sie die Sprache nicht verstanden und somit nicht die Wahrheit herausfinden konnten. Die Wahrheit über die Sündenvergebung. Plötzlich sollte nämlich alles ganz einfach sein und sogar kostenlos! Die Ablassbriefe sollten auf einmal nutzlos sein und keinen Wert mehr haben. Denn da war dieser eine Mann. Jesus. Natürlich hatte Lars schon von ihm gehört. Im Religionsunterricht hatten sie schon viele Geschichten über ihn gehört. Lars hatte ihn immer für so etwas wie einen Zauberer gehalten, wo er doch so viele magische Dinge tat, die sonst keiner tun konnte. Wie sollte man bitte auch aus ein paar Fischen und ein wenig Brot über fünftausend Menschen satt bekommen? Lars war sich nie ganz sicher gewesen, ob er auf solche Geschichten etwas geben konnte. Schließlich war er nicht mehr so klein wie Emilia und glaubte alles, was man ihm sagte. Nun ja, jedenfalls war dieser Jesus leider irgendwann gekreuzigt worden und somit gab es diesen Zaubermann auch nicht mehr, oder?
Tag 3
Nachdem Lars gestern schon sehr früh ins Bett gegangen war, wachte er leider auch heute wieder relativ früh auf. Dieses Mal jedoch fand er es nur halb so schlimm. Es standen immer noch drei Bücher in seinem Regal, die er von unterschiedlichen Leuten zugeschickt bekommen hatte. Seinen Vater hatte er am vorherigen Tag auf Martin Luther angesprochen und ihn ein wenig über das Thema gelöchert. Dieser hatte gemeint, dass dieser Martin ein großartiger Mann gewesen sei und einiges widerlegt hatte, was die Kirche dem Volk eingeredet hatte. So sagte er auch, dass es ein sogenanntes Fegefeuer, in das die Menschen vorübergehend kommen konnten, nicht gab. Stattdessen sollte es eine Hölle und einen Himmel geben und diese beiden Orte sollten endgültig sein. Man würde also nach dem Tod ewig dort sein. Ewig. Ein mächtiges Wort, wie Lars fand. Wenn er jetzt nocheinmal darüber nachdachte, fuhr es im beinahe kalt den Rücker herunter. Doch allerdings nur bei der Hölle, die er sich sehr grausam vorstellte. Seltsamerweise sprachen die Pfarrer in der Kirche, die er wenige Male im Jahr besuchte, doch eigentlich nie von einer Hölle, oder nicht? Hatte dieser Martin dann wirklich Recht? Vielleicht hatte er die Bibel, aus der er diese Information genommen hatte, ja auch nur falsch verstanden. Lars kam ins Grübeln. Eigentlich aber war es doch gerecht. Oder nicht? Ein Ort für gute Menschen und einen für böse. Doch wer konnte schon sagen, wer gut und wer böse war? Schließlich tat doch jeder einmal etwas schlechtes. Nicht leicht, diese Frage. Auf Beerdigungen hörte man nie, dass die verstorbene Person mit Sicherheit in die Hölle kam, weil sie doch so schlecht gewesen war und so viele kleine Fehler gemacht hatte. Komisch.
Lars schlüpfte in seine Hausschuhe und ging zu den in den Regal stehenden Büchern. Eins nach dem anderen schaute er sich an und versuchte sich zu entscheiden, welches er heute lesen wollte. Schnell hatte sich für ein Buch entschieden und legte sich damit wieder in sein Bett.
Lars Bauchschmerzen hatten sich endlich verabschiedet, was zum größten Teil wahrscheinlich an dem Medikament bekam, das er zusätzlich zu seinen täglichen Tabletten nun einnehmen musste. Lars wurde bereits darüber informiert, das er die Tabletten zu Hause auch zu sich nehmen musste und dass er vieles immer noch nicht machen durfte. Beispielsweise waren große Menschenaufläufe ein großes Tabu für ihn, da dort die Infektionsgefahr um ein Vielfaches stieg. Auch konnte er natürlich nicht baden gehen, da sein Katheter für eine Weile noch in ihm bleiben würde. Das Duschen würde sich natürlich schwierig gestalten, aber hier konnte er sich ja schließlich auch nur mit einem Waschlappen waschen.
Lars waren diese viele Umstände im Moment völlig egal. Er würde so Einiges in Kauf nehmen, um nur endlich wieder in sein gewohntes Heim zurück zu dürfen.
DU LIEST GERADE
The kids at station 7
Short StoryEin ganz normaler Arztterim, dachte er. Schulfrei und eine entspannte Autofahrt nach Ulm, in der er auf dem Handy seiner Mutter ein Spiel spielen durfte. Man würde nur seine Fingernägel genauer unter die Lupe nehmen, mehr nicht. Die gehasste Doppels...